»Wir müssen sofort nach Bologna zu Professor Siri«, sagte er, als Luises Weinkrampf sich etwas beruhigt hatte. »Er ist der einzige, der helfen kann.«
Luise nickte. Sie stützte den Kopf in beide Hände und starrte in die Kissen. Ein graudumpfes Kissen, und sie wußte, daß es roter, leuchtender Samt war.
»Und wenn nicht.?« fragte sie kaum hörbar.
»Was nicht?«
»Wenn er nicht mehr helfen kann?« »Es ändert sich nichts. Ich liebe dich weiter wie bisher ... muß man darüber sprechen? Ich habe dich geliebt in dem Glauben, daß du blind seist, vergiß das nie! Daß du in Wirklichkeit sehen konntest, war ein Geschenk Gottes an mich.«
»Und nun werde ich doch blind.«
»Professor Siri wird helfen! Wir müssen sofort hin!«
Luise nickte. Und dann sagte sie das, was auch Sanden dachte.
»Aber wie?«
»Es gibt jetzt keine Rücksichten mehr. Es geht nicht mehr um dein Geld, nicht mehr um Monika und deinen Mann, um die Rache an einem Betrug, um die Sühne einer Sünde, um Unterschlagungen und Geldgier ... es geht jetzt nur noch allein um deine Augen!« Sanden setzte sich zu Luise und drückte ihren zuckenden Kopf an sich. »Ich werde Dahlmann die volle Wahrheit sagen . und dann fahren wir nach Bologna.«
»Er ... er wird dir etwas antun!«
»Dazu ist er zu feig! Aber es ist endlich Schluß mit diesem Spiel! Ich habe es nie für richtig gehalten.«
»Jetzt geht es auch um Monika, Robert.«
»Dazu ist die Polizei da.«
»Aber wenn ich andere Möglichkeiten als die Polizei habe, die Wahrheit zu erfahren.?«
»Es ist Schluß!« Sanden sprang auf. Seine sonst schöne, weiche Stimme war hart und metallisch. »Es geht allein um dich . um nichts anderes mehr. Wenn du willst . auch um mich! Nichts auf der Welt ist jetzt wichtiger als deine Augen. Wir müssen zu Professor Siri, und wenn es durch die Hölle zu ihm geht. Komm . ich bringe dich nach Hause. In einer halben Stunde ist das ganze Dahlmann-Drama vorbei, und wir fahren nach Bologna.« Er riß Luise von der Couch zu sich hoch und drückte sie fest an sich. »Was kann uns jetzt noch aufhalten?! Alles ist doch so nichtig gegen das Licht in deinen Augen.«
»Ich habe Angst -«, sagte Luise tonlos.
»Angst? Vor deinem Mann? Das ist in einer Stunde Vergangenheit.« »Angst vor allem! Vor Professor Siri, der Untersuchung, dem neuen Blindsein, dem Leben. Ich habe Angst, daß ich nicht zum zweitenmal die Kraft aufbringe, blind zu sein, jetzt, wo ich weiß, was Licht wirklich ist.« Sie drückte das Gesicht an seine Brust und klammerte sich an ihm fest. »Ich weiß, daß ich die Kraft nicht mehr habe.«, weinte sie.
Robert Sanden wußte es auch. Was auf Luise zukam, war mehr, als ein Mensch ertragen konnte. Hier half keine Liebe mehr, kein Zureden, keine Zärtlichkeit, kein Reichtum, keine Bemühung, die wieder versunkene Welt durch das Gehör weiterleben zu lassen. Wenn Luises Augen erneut verloschen, war es auch ein Verlöschen des Menschen Luise. Professor Siri hatte jetzt nicht nur das Licht zweier Augen zu retten, sondern ein Leben.
»Ich rufe in Bologna an«, sagte Sanden heiser.
Das Blitzgespräch kam in zwanzig Sekunden durch. Das Sekretariat der Clfnica St. Anna ließ Dr. Saviano rufen.
»Sofort kommen!« rief der Assistent Professor Siris. Man hörte, wie entsetzt er war. »Der Professore ist heute nicht hier. Ich werde es ihm sagen, heute Nacht noch. Kommen Sie mit Flugzeug . sofort . und legen Sie auf alle Fälle eine Binde um die Augen . sofort eine Binde. Sie darf nicht mehr sehen, sie darf kein Pünktchen Licht mehr haben. Noch besser . verkleben Sie ihr die Augen mit Leukoplast.«
Robert Sanden legte auf. Luise saß auf der Couch und sah ins Leere. Kein Licht mehr . sofort verbinden. Leukoplast auf die Augen ... er brachte es nicht fertig, es Luise zu sagen.
»Was meint Dr. Saviano?« fragte sie ohne aufzublicken.
»Sofort kommen. Mit dem Flugzeug.«
»Hat er noch Hoffnung?«
»Davon hat er gar nicht gesprochen. Er muß dich ja erst sehen.«
»Wovon hat er sonst gesprochen?« Luise sah auf, als Sanden nicht sofort antwortete. In seinen Augen las sie die Wahrheit. »Kein Licht mehr, nicht wahr.« sagte sie leise.
Sanden nickte stumm. Seine Kehle war ausgedörrt und rissig. Er brachte keinen Ton heraus.
»Freiwillig blind also?«
»Bis zur Untersuchung.« Seine Stimme hatte jeglichen Ton verloren.
»Womit?«
»Eine Binde . Watte mit Leukoplast . oder . oder.«
»Ich habe alles zu Hause.« Sie schloß die Augen und setzte die dunkle Brille auf. »Komm ... bring mich nach Hause. Ich verspreche dir, die Augen zuzuhalten. Ich will nicht einmal mehr blinzeln. Fahr mich nach Hause.«
Sie tastete nach seiner Hand und merkte, wie schwer es ihr wieder war, sich im Dunkeln erneut zurechtzufinden. Er faßte sie, und seine Finger waren eiskalt. Langsam, Schritt für Schritt gingen sie hinaus aus dem Haus und zu Sandens kleinem Wagen. Ein paarmal stolperte Luise, und immer wieder war sie versucht, die Lider zu heben und schnell zu sehen. Aber sie tat es nicht . kein Licht mehr, hatte Saviano gesagt. Ab sofort! Ob es noch eine Chance gab? Für diese Hoffnung jetzt freiwillig blind zu sein, war kein Opfer mehr. Es waren nur noch Stunden . wie winzig sind sie, wenn man mit ihnen das Licht des Tages und die Sterne der Nacht retten kann.
Ernst Dahlmann hatte nach Rücksprachen bei dem Direktor der Fluggesellschaft endlich die Zusicherung erhalten, einen Platz in der Maschine nach Zürich zu erhalten. Er fuhr zu einem anderen Reisebüro und bestellte dort eine Bahnkarte nach Flensburg. In einem dritten Büro kaufte er eine Fahrkarte nach Paris, in einem vierten eine Karte nach Calais-Dover-London. Dann trank er zufrieden eine Tasse Kaffee und einen Kognak dazu.
Man soll sich totlaufen, dachte er vergnügt. Ob Zürich, Dänemark, Paris oder London ... überall kann Ernst Dahlmann hingefahren sein.
Es wird sich nie feststellen lassen, wohin er wirklich geflüchtet ist und welche Grenze er überschritten hat. Er hat sich in alle vier Winde aufgelöst... das wird von allen Nachforschungen übrigbleiben.
Dahlmann hatte also allen Grund, zufrieden zu sein. Noch zwei Tage, und das große Spiel war zwar nicht gewonnen, aber doch mit einem Teilsieg abgebrochen worden. Übermorgen früh, bevor er zum Flughafen abfuhr, würde er bei zwei Banken seine ausgefüllten Blankoschecks abheben ... an diesen Tagen waren zusammen 63.865 Mark Bargeld auf den Konten. Die Mohren-Apotheke hatte nach Südamerika die Herstellung von Dahlomed, einem ungefährlichen Schmerzmittel ohne Barbitur, als Lizenz verkauft. Die Außenhandelsbank hatte angerufen und zugesagt, daß die Anzahlung des Lizenzbetrages zur Auszahlung vorliege und bis morgen auf dem Konto Dahlmanns verbucht sei.
Das Glück kommt mir entgegen, hatte Dahlmann gedacht, als er diesen Bescheid erhielt. Er erhöhte seine Beute um 20.000 Mark.
Gegen elf Uhr, fast um die gleiche Zeit, als Robert Sanden langsam durch das Verkehrsgewühl mit Luise zur Mohren-Apotheke fuhr, bestieg Ernst Dahlmann sein Auto und stellte das Radio an. Er suchte nach flotter Tanzmusik und fuhr erst an, als er sie gefunden hatte. Der Hitze wegen legte er den Sicherheitsgurt nicht um, ohne den er sonst keine Strecke Auto fuhr, selbst nicht den kleinsten Weg zur Post oder zur Bank. Er schob das Schiebedach zurück, sah in den blauen Himmel und dachte, wie schön doch das Leben sei, wenn das Herz glücklich ist. An Monika wollte er in diesem Augenblick nicht denken . jetzt, wo sie im Moor versunken war, kam ihm das alles wie ein tragischer Unglücksfall vor, den man überwinden muß, weil er ein unabwendbares Schicksal war. Damit tröstete er sich auch, ja, es war schade, nicht nach Mitleid anderer suchen zu können, denn auch ihn hatte ja das Unglück schwer getroffen. Es war eine Moralakrobatik, die Dahlmann allem Bösen entzog und sein Gewissen blank scheuerte.
Kurz vor dem Hauptbahnhof Hannover mußte Dahlmann plötzlich bremsen, weil ein sichtlich betrunkener Radfahrer einfach über die Fahrbahn torkelte, ohne nach rechts oder links zu blicken. Der Tritt auf die Bremse, das Aufkreischen der Räder und das Stillstehen des Wagens kamen so plötzlich, daß zwei hinter Dahlmann fahrende Wagen seinen Stillstand erst merkten, als sie sich beide mit aller Wucht in den Kofferraum bohrten und den stehenden Wagen vor sich herschoben.