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»Sie haben Ihre Augen überanstrengt -«, sagte Siri endlich. Luise nickte.

»Ja.«

»Sie haben meinen Rat nicht befolgt, in der ersten Zeit nur in Abständen von Stunden die Brille abzunehmen, ja, überhaupt zu sehen.«

»Das stimmt.«

»Ehrlich sind Sie wenigstens.« Professor Siri sprang auf und wan-derte zwischen seinen Geräten herum. »Nun haben wir die Quittung, signora -«

»Ich ... ich werde wieder blind.?«, sagte Luise kaum hörbar. Es kostete alle Tapferkeit, diesen Satz zu fragen. Dann sank sie in sich zusammen. Die letzte Kraft war verbraucht . sie spürte, wie kalter Schweiß ihr Gesicht überzog, und sie stemmte sich dagegen, ohnmächtig zu werden. Professor Siri bemerkte es nicht . er umkreiste seine Instrumente, den Kopf nach vorn gestreckt, die Hände in den Taschen seines kurzen, weißen Arztkittels.

»Quatsch. Verzeihen Sie, signora. Sie werden nur wieder blind, wenn Sie weiter so unvernünftig sind! Was ich tun konnte, habe ich getan . die transplantierten Hornhäute sind sehr gut eingewachsen, haben sich nicht getrübt . das sogenannte Fenster zur Seele bleibt offen. Aber -«, er unterbrach und blieb stehen, »Sie haben Ihre Sehnerven überreizt! Ich habe Ihnen damals gesagt: Alles, was vor dem Gehirn liegt, kann ich reparieren . einen Nerv aber nicht! Vor allem keinen Sehnerv! Wir sind noch nicht so weit, daß wir Gehirne oder Gehirnparzellen auswechseln können! Irgendwo ist eine Grenze der Medizin, hinter der das göttliche Wunder beginnt. Sie, signora, stehen hart an der Grenze -«

»Und was ... was soll ich tun.?« Luise hatte den Schwächeanfall überwunden. Aber sie war noch unfähig, von dem hölzernen alten Sessel herabzusteigen und an das Fenster zu gehen, um Luft zu schöpfen. Dr. Saviano wiederum wagte es nicht, irgend etwas zu tun, wozu ihn Professor Siri nicht aufgefordert hatte. Er wußte, daß der Chef jetzt in einer Stimmung war, in der eine nähere Berührung mit ihm gefährlich wurde.

»Blind werden!« sagte Siri laut.

»Ich denke -«, Luises Stimme versagte.

»Freiwillig blind werden! Für mindestens drei Monate! Sie werden beide Augen lichtdicht abschließen und eine schwarze Brille tragen, wenn Sie ab und zu die Binden abnehmen. Dann sehen Sie zwar etwas, aber ohne Lichteinfall. Die Sehnerven brauchen völlige Schonung. Und auch nach diesen drei Monaten geht es langsam voran. Brillen mit dunklen Gläsern, die nach und nach durch immer hellere ersetzt werden. Wie ein Kind gehen lernen muß, so müssen Sie schrittweise sehen lernen! Ist das klar?!«

»Ganz klar, Herr Professor.«

»Dr. Saviano wird Ihnen zwei selbsthaftende Augenklappen anpassen, die Sie drei Monate lang tragen! Augenwaschen und das Eintröpfeln der Antibiotika machen Sie nachts, bei völliger Dunkelheit.« Professor Siri blieb vor Luise stehen. Jetzt erst sah er, wie fahlblaß sie war, wie bis ins Innerste entsetzt und zerrissen. Er hatte sich in den dreißig Jahren seiner Chirurgentätigkeit abgewöhnt, Mitleid zu zeigen oder überhaupt in sich aufkommen zu lassen. Er hatte Menschen erlebt, die nach dem wiedergeschenkten Augenlicht auf den Knien den langen Flur der Klinik entlangrutschten bis zur Hinterwand, an der, umgeben von Blumen, eine Marienstatue stand. Dort hatten sie ihren Dank gebetet, schreiend vor Glück. Und er hatte Menschen erlebt, die zusammenfielen und in völlige Apathie versanken, wenn es sicher war, daß sie nie wieder die Sonne sehen durften, nie mehr die Berge und Felder, das Meer und die weißen Wolkenballen. In diesem Augenblick, als Siri das völlig verstörte Gesicht Luises sah, spürte er so etwas wie Mitgefühl. »Sie müssen Geduld haben, signora.«, sagte er leise, ganz gegen seine Art.

»Ich werde sie haben, Herr Professor«, flüsterte Luise.

»Warum haben Sie sie nicht vorher gehabt?«

»Es war nicht möglich.«

»Nicht möglich! Es gibt nichts auf der Welt, was Sie daran hindern könnte, Geduld zu haben!«

»Das habe ich auch gedacht -«

Professor Siri neigte den Kopf etwas. Sein Blick wurde fragend.

»Mich geht Ihr Privatleben nichts an, signora«, sagte er langsam. »Mich interessieren Ihre Augen, weiter nichts. Aber für seinen Patienten sollte ein Arzt mehr sein als nur ein Heilkünstler . er sollte Beichtvater und Freund zugleich sein. Viele Erkrankungen liegen im seelischen Bereich . und da helfen keine Pillen und Wässerchen und erst recht nicht ein chirurgisches Messer.« Siri schwieg und wartete. Da Luise Dahlmann nicht antwortete, sprach er mit einem Seufzer weiter. »Denken Sie daran, signora, daß nichts so wichtig sei wie Ihr Augenlicht! Auch wenn man glaubt, das andere sei wichtiger . es ist eine Täuschung! Sehen können - das ist das wirkliche Geschenk

Gottes! Man sollte es nicht wegwerfen für Dinge, die vergänglich sind.«

Luise nickte stumm. Ich werde wieder blind sein, dachte sie nur. Zwar freiwillig, aber welch ein Unterschied ist es schon? War es bisher schon unmenschlich schwer, sehen zu können und als Blinde zu gelten ... um wieviel schwerer ist es nun, sehen zu können und blind sein zu müssen! Drei Monate lang wieder die ewige Nacht... und dann Tage und Wochen in Dämmerung, die sich langsam auflöst, heller und heller wird, bis die Blumen ihre Farbe wieder haben und die Gegenstände ihren Glanz. Und dann immer noch die Ungewißheit: Wird es bleiben, sind die Nerven nun erholt . oder kommt wieder die entsetzliche Feststellung, daß ein Sonnentag plötzlich trüb wie im Herbst wird und die Blüten ihre Farben verlieren und im Grau versinken.?

Und dann Ernst Dahlmann! Drei Monate weiter an seiner Seite? Drei Monate, nun wieder blind und hilflos, ausgeliefert seiner schmeichelnden Gemeinheit, seinen Plänen, die er einhüllt in Zärtlichkeit, seiner Teufelei im Gewand eines Liebhabers?! Es war nicht möglich! Es überstieg einfach die menschliche Kraft. So sicher, wie sie jetzt drei Monate lang wieder durch ihre Welt sich tasten mußte, so sicher war die Fälligkeit einer Entscheidung gleich nach ihrer Rückkehr.

Noch einmal wollte sie sehen . einen Tag lang. Alle sollten es wissen . zwischen Freude und Entsetzen würden vierundzwanzig Stunden des großen Aufräumens abrollen ... und dann war sie bereit, wieder zurück in die Nacht zu gehen, befreit von allem, was bisher ihr Leben gewesen war. Ein Irrtum, der zur Sünde geworden war.

Professor Siri hob die Hand. Es war, als habe er ihre Gedanken erraten.

»Sie werden ab sofort die Augenklappen bekommen, signora.«, sagte er eindringlich. »Und ich beschwöre Sie: Nehmen Sie sie nicht ab. Nicht für eine Stunde! Sie wissen nicht, wie gefährlich Licht sein kann!« »Ich . ich werde gehorchen, Herr Professor.«, sagte Luise mit fester Stimme. Professor Siri nickte, obgleich er wußte, daß sie log. Mehr als warnen konnte er nicht.

Er gab Luise Dahlmann beide Hände, wollte noch etwas sagen, etwas Ermahnendes, Eindringliches, aber dann verzichtete er darauf, weil er wußte, daß eine Frauenseele nur bis zu einem gewissen Grad ansprechbar war. Wo Gefühle das Handeln einer Frau bestimmten, waren Logik und Überzeugungsversuche ein verschenkter Luxus. So sagte er nur: »Alles Gute, signora. Wir sehen uns wieder, wenn alles an Ihren Augen in Ordnung ist.«, drehte sich um und verließ schnell sein Untersuchungszimmer. Dr. Saviano löste sich aus dem Hintergrund, in dem er still und fast unbeweglich gewartet hatte.

»Nun wissen wir es.«, sagte er gepreßt.

»Ja -«

»Bitte setzen Sie sich, signora.«

»Schon jetzt.« Helle Angst schwang in ihrer Stimme. Sie sah sich um. Das Zimmer war abgedunkelt . aber hinter den Gardinen leuchtete der helle Tag, wiegten sich die schlanken Spitzen der Zypressen im Wind und erholten sich unter dem breiten Astdach der Pinien die Eselstreiber von der Mittagshitze.

Luise senkte den Kopf. Ihre Stimme klang kindlich.

»Darf . darf ich nicht noch einmal aus dem Fenster sehen.?«

»Nein, signora.«

»Nur einen Blick. Ganz kurz.«, bettelte sie.