»Ich darf es Ihnen nicht erlauben. Die Sonne blendet. Die Sehnerven würden sofort wieder einem großen Reiz unterliegen. Und jeder neue Reiz kann uns um Wochen zurückwerfen. Ist ein einziger Blick so viel wert?«
»Ja -«, Luise deckte beide Hände über die brennenden, wieder tränenden Augen. »Wenn Sie die ewige Nacht erlebt hätten -«
»Sie soll ja nie wiederkommen. Das muß Ihr einziger Gedanke sein, signora.«
»Es wird auch das einzige sein, was mir die Kraft dazu geben kann.«
Luise ließ die Hände sinken und legte den Kopf zurück auf eine Nackenstütze, die Dr. Saviano an dem alten Sessel hochschob. »Ich bin bereit.« Sie atmete tief auf und legte die Hände gefaltet in den Schoß. »Verzeihen Sie, Doktor ... es war nur eine vorübergehende Schwäche . ein Aufbäumen. Der Mensch macht oft viel Sinnloses, wenn er sich gegen Unabänderliches wehren will -«
Dr. Saviano bereitete an einem Nebentisch die Augenklappen vor. Es waren schwarze Haftschalen, mit einer besonders weichen Spezialwatte gepolstert, die die Augen völlig abdunkelten. Wenn man darüber eine schwarze Brille trug, sah man nur an der Nasenwurzel einen Rand der Klappen. Das Gesicht wurde durch sie nicht entstellt. Diese Klappen waren eine Erfindung Professor Siris und eine deutliche Verbeugung vor der Eitelkeit seiner weiblichen Patienten. Er war viel zu sehr Südländer und Frauenfreund, um nicht zu wissen, wie groß die Rolle der Kosmetik in der Medizin war.
Luise Dahlmann saß ganz still, als Dr. Saviano die Haftschalen anlegte. Der Rand der Augenklappen war mit einer hautfreundlichen Klebemasse bestrichen, in der Art wie Leukoplast, die unverrückbar festhielt, sobald sie auf die Haut gedrückt war.
»Bitte, öffnen Sie die Augen, signora«, sagte Dr. Saviano. Luise hob die Lider. Es war Nacht.
»Sehen Sie etwas?«
»Nein.« Luise schüttelte leicht den Kopf.
»Ehrlich, signora! Gar nichts?«
»Es ist völlig schwarz um mich.«
»Blicken Sie zur Seite.«
»Nichts.«
»Kein Schimmer? Kein Streifen?«
»Nichts.«
»Dann sitzen die Schalen gut.« Dr. Saviano schob ein paar Brillen auf Luises Nase, bis er eine passende gefunden hatte. »So, jetzt sind wir soweit«, sagte er dann.
»Kann ich aufstehen?«
»Ja.«
Luise erhob sich von dem Sessel. Sie tastete um sich und ging langsam an der Hand Dr. Savianos aus dem Untersuchungszimmer. Jetzt sind wir auf dem Flur, dachte sie. Er macht gleich einen leichten Bogen ... dann stehen wir in der Eingangshalle ... nein, eine Milchglastür ist noch dazwischen, mit einer rot eingeätzten Schrift in vier Sprachen. Eintritt verboten. Und dann die großen Glastüren des Eingangs, der Vorbau auf Säulen, die Stufen, die breite Anfahrt durch den Park.
Sie blieb stehen und preßte die Fäuste gegen das Herz.
»Signora -«, sagte Dr. Saviano leise und tröstend.
»Ich habe Angst.« Luise lehnte den Kopf an die Schulter des Arztes. »Ich habe Angst, es nicht durchzuhalten.«
»Sie müssen, signora . es geht um Ihre Augen.«
»Es ist unmenschlich.«
»Ich weiß es. Aber es muß sein -«
»Und wenn ich es nicht durchhalte.?«
»Daran dürfen Sie nie denken! Wenn Sie den Drang haben, die Schalen von den Augen zu reißen, wenn es überhaupt nicht mehr geht . dann rufen Sie jemanden und lassen sich die Hände festbinden. Denken Sie immer daran, daß es nur vorübergehend ist . nur drei Monate -«
»Drei Monate können drei Jahrzehnte werden.«
»Aber es sind doch nur drei Monate, signora. Freuen Sie sich auf das Licht -«
Luise nickte und tastete nach Dr. Savianos Hand. »Danke, Doktor.«, sagte sie mit schwankender Stimme, »danke - ich will stark sein.«
Robert Sanden sagte nichts, als man Luise Dahlmann zu ihm ins Wartezimmer führte. Er faßte sie unter, küßte sie zart und führte sie hinaus aus dem Haus. Sie spürte die Wärme der Sonne und stellte sich vor, wie herrlich der Park aussah. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Robert Sanden drückte ihren Arm an sich.
»Ich bin bei dir«, sagte er tröstend. »Du wirst bei mir bleiben.«
»Das geht nicht.« Luise blieb stehen. »Es ist unmöglich, daß ich bei dir wohne, bevor alles geregelt ist.«
»Dann ziehst du in ein Hotel.«
»Aber warum denn?«
»Ich lasse dich mit deinem Mann nicht mehr allein.«
»Dahlmann liegt noch in der Klinik ... mindestens zwei Wochen.« Sie sagte nicht >mein Mann<, sondern Dahlmann.
»Und dann?« Sandens Stimme bebte vor Erregung.
»Dann ist alles geregelt. In der Zwischenzeit wird Fräulein Pleschke für mich sorgen.«
»Ich werde jeden Tag kommen und nachsehen. Ich werde dich nie mehr ohne Aufsicht lassen -«
Sie lächelte schmerzlich und nickte.
»Komm -«, sagte sie leise. »Du mußt jetzt ganz vorsichtig mit mir sein. Jetzt bin ich zerbrechlich wie dünnes Glas . ich fühle es. Sage mir alles, was du siehst . ich will alles miterleben.«
Mit dem Nachtzug fuhren sie zurück. Sie brauchten nicht mehr zu fliegen . jetzt hatten sie Zeit, viel Zeit.
Luise schlief, in die Polster zurückgelehnt. Robert Sanden starrte hinaus in die vorüberfliegende Nacht. Die Räder unter ihm hämmerten die Kilometer weg.
Er machte sich Sorgen um die nächsten Tage. Er hatte das dunkle, unbestimmbare Gefühl, einer Katastrophe entgegenzufahren -
Von Soltau kam eine merkwürdige Meldung auf den Tisch des dicken Faber. Er las sie zweimal und setzte sich nachdenklich hinter sein Paket mit Schinkenbroten.
Ein pensionierter Postinspektor berichtete aus dem Dorf Hetzwege, daß der Moorbauer Onno Lütje zwei Scheinwerfer gesehen habe, mitten in der Nacht und mitten im unwegsamen Moor. Der Polizeiposten von Hetzwege habe Onno Lütje, der als Quartalssäufer bekannt sei, zwar hinausgeworfen, aber er, der Postinspektor, messe dieser Beobachtung eine gewisse Bedeutung bei.
Der Leiter der Soltauer Polizei fügte diesem Bericht hinzu, daß er diese Beobachtung weitergebe, weil aufgrund der Fahndung nach einer gewissen Monika Horten vielleicht hier ein Anhaltspunkt vorhanden sei. Außerdem sei er aufgefordert, jede nicht alltägliche Beobachtung nach Hannover zu melden.
»Ein schöner Mist!« sagte der dicke Faber und biß in ein Schinkenbrot. »Das fehlt uns noch. Eine Leiche im Moor. Man sollte umsatteln und Gemüse verkaufen.«
Immerhin hielt er die Meldung für so wichtig, daß er mit seiner Kommission nach Soltau und von dort nach Hetzwege fuhr, um Onno Lütje zu befragen. Auf der Polizeistation hatte er erfahren, daß man auf die Spökenkiekereien Lütjes keinen Wert legen dürfe. »Der Mann ist immer im Tran, Herr Kommissar«, sagte der Feldgendarm in strammer Haltung. Es war das erste Mal, daß die Mordkommission in Hetzwege auftauchte. Ein solcher Besuch nötigte Achtung ab.
Das Verhör gestaltete sich auch schwierig, wie vorausgesagt. Onno Lütje hatte sich Mut angetrunken. Der dicke Faber saß in einer Wolke von Alkoholdunst, als er endlich den Zeugen soweit hatte, nicht immer zu sagen: »Es wor d'Düwel, Herr Kommissar ... d'Düwel.« Erst nach langen Vorhaltungen, ob es auch zwei Scheinwerfer hätten sein können, räumte Onno Lütje ein, daß dies möglich sei. Aber dann schüttelte er wieder den Kopf. Im Moor des Hermes-Fiedje gab es keinen Weg, wenigstens keinen, der Unbekannten ohne weiteres zugänglich war. Nur Einheimische kannten die schmalen, festen Moorpfade. Nicht einmal auf Spezialkarten waren sie zu finden.
»Sehen wir uns den Mist mal an!« sagte der dicke Faber.
Im Moorstück des Fiedje Hermes gab es keine Spuren mehr. Selbst der Platz, auf dem Dahlmann sein Auto geparkt hatte, war wie reingefegt. Es hatte zweimal geregnet, der weiche Boden war glatt wie eine Kinderhaut. Der dicke Faber, der Feldgendarm, der Leiter der
Soltauer Polizei, Onno Lütje und der so unverhofft zum Mittelpunkt gewordene Fiedje Hermes, ein Kerl wie ein Bär, standen am Rand des geheimnisvollen Moores.