Nach drei Tagen Herumsitzens durchbrach sie zum erstenmal das Verbot Professor Siris. Sie konnte einfach nicht anders, sie war kein Übermensch. Aber sie wählte die Nacht dazu, ließ alle Jalousien herunter und nahm die Augenklappen erst ab, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß das Dunkel in der Wohnung fast der Nacht glich, in der sie leben mußte. Der kaum wahrnehmbare Schimmer Licht aber, der durch die Jalousien glitt, genügte, die Gegenstände zu er-kennen und sich sicher zu bewegen.
Sie suchte etwas. Sie wußte nicht, was es sein sollte, aber sie hatte den unbändigen Drang, systematisch alles durchzuwühlen . jede Schublade, jeden Winkel der Wohnung.
Bei dieser Suche stieß sie am fünften Tag auf ein Anzugknäuel. Es war der blutverschmierte Anzug Dahlmanns, den er bei dem Unfall getragen hatte. Das Krankenhaus hatte ihn in die Wohnung bringen lassen, nachdem die Polizei ihn freigegeben hatte. In dem Anzug waren alle Wertsachen, die Dahlmann an diesem Tage bei sich getragen hatte . die Schlüssel, eine Zigarettendose, ein Feuerzeug, ein silberner Kugelschreiber, Taschentücher, die Führerscheintasche und seine Brieftasche.
Luise Dahlmann trug die Brieftasche aus der Besenkammer, in die das Hausmädchen den Anzug gelegt hatte, um ihn später zur Reinigung zu geben, hinüber ins Wohnzimmer.
Sie setzte sich ans Fenster und hielt die Krokoledertasche gegen den schwachen Lichtschimmer, der durch die Jalousien fiel. Aber er war so schwach, daß sie nur die Umrisse erkennen konnte ... die Briefe und Zettel, die in ihr lagen, waren unkenntlich, sie knisterten nur zwischen ihren Fingern.
Noch nie hatte Luise Dahlmann die Brieftasche ihres Mannes in der Hand gehabt. Es war ihr bisher nie der Gedanke gekommen, dort zu kontrollieren, wo ein Mann seine Geheimnisse aufzubewahren pflegt. In den Jahren ihrer glücklichen Ehe hätte sie das als einen unverzeihlichen Vertrauensbruch angesehen . so etwas tut man einfach nicht, hatte sie einmal im Freundinnenkreis gesagt, als die Rede darauf kam, daß man die Männer heimlich kontrollieren sollte. Vertrauen ist das Fundament einer Ehe ... ja, Vertrauen ist fast noch wichtiger als Liebe.
Später dann hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt, an Dahlmanns Brieftasche heranzukommen. Zweimal hatte sie es in der Nacht versucht . aber der Rock war leer, und Zeit zu suchen, wo er die Brieftasche hingelegt hatte, bekam sie nicht durch die Angst, er könne plötzlich erwachen und erkennen, daß sie sehen konnte.
Nun hielt sie die Brieftasche in der Hand, und sie war verurteilt, den Inhalt nicht im Hellen sehen zu können.
Luise zögerte lange. Sie starrte gegen das Fenster und die das Licht abschließende Jalousie.
Nur ein paar Sekunden, dachte sie. Ein kleiner Ruck, ein Spalt Licht, ein schnelles Durchblättern der Papiere . und dann wieder Dunkelheit. Diese wenigen Sekunden konnten keine Komplikationen auslösen, sie würden die Sehnerven nicht belasten . sie durften es einfach nicht.
Aber dann hörte sie die Worte Professor Siris und Dr. Savianos wieder. »Jeder Lichtstrahl kann uns um Wochen zurückwerfen! Seien Sie stark . stark . stark.«
Luise umklammerte die Brieftasche. Wie kann ich stark sein, dachte sie. Wie kann ich jetzt noch stark sein?! Jeder muß begreifen, daß ich jetzt Licht brauche. Jeder wird es mir verzeihen. Jeder wird doch einsehen, daß es unmöglich ist, die Brieftasche ungelesen wieder zurückzulegen.
Sie saß über eine Stunde vor dem Fenster, die Brieftasche in der Hand, und rang mit sich. Sie rief ihre Vernunft an und verlor den Ruf an den drängenden Gedanken: Hier wirst du Beweise finden. Wenn es einen Ort gibt, wo du etwas entdecken kannst, dann ist es diese Brieftasche! Du mußt sie ansehen, du mußt Licht machen, du mußt auf alle Gefahren hin, die daraus erwachsen, sehen können, lesen können. Und wenn es das Opfer deiner Augen ist . jetzt, jetzt kannst du nicht anders handeln.!
Sie legte die Brieftasche geöffnet auf die Fensterbank und ergriff die Jalousiegurte. Noch einmal zögerte sie, griff nach der schwarzen Brille, setzte sie auf und sah, daß es wieder tiefe Nacht war. Da riß sie die Brille herunter, krallte die Finger in den Gurt und zog.
Die Jalousie rollte sich knirschend hoch. Ein Spalt verbreiterte sich, Licht fiel auf die Fensterbank ... Luise blinzelte - so gedämpft das Abendlicht auch war, es blendete unerträglich, sie spürte einen stechenden Schmerz bis in die Haarwurzeln, quer durch das Gehirn ... dann sah sie, las sie, erkannte sie die Papiere, als würden sie von einem grellen Scheinwerfer angestrahlt.
Ein paar Briefe von pharmazeutischen Fabriken . eine Geldanweisung aus Südamerika ... drei Bankauszüge mit zusammen 61.796,43 Mark. Dahlmann hatte die Summe ausgerechnet und auf einen Auszug geschrieben . und dann die Blankoschecks . ohne Datum . Barschecks, mit der Unterschrift Luise Dahlmann.
Luise erkannte, daß es keine Fälschung war. Es waren alte Schecks, die sie unterschrieben hatte, als sie noch voller Vertrauen und mit der hingebenden Liebe der Blinden an ihrem Mann hing. Schecks, die Dahlmann bis jetzt mit sich herumgetragen hatte, ohne sie zu benutzen. Schecks, und das begriff Luise sofort, die Dahlmann ein neues Leben öffnen würden, wenn er sie mit der nötigen Summe einlöste. Mit über 61.000 Mark. Was sie jetzt in der Hand hielt, war das Ziel Ernst Dahlmanns - sie wußte es, ohne nachzudenken. Ein Ziel, das der Unfall nur verschoben hatte.
Luise nahm die Schecks an sich, klappte die Brieftasche zu und ließ die Jalousie herunterfallen. Dann lehnte sie sich zurück, schloß die Augen und faltete die Hände.
Verzeih mir, mein Gott, dachte sie plötzlich. Ich habe dich herausgefordert . aber es war keine Sünde, es mußte sein. In diesen wenigen Sekunden ist Ernst Dahlmann vernichtet worden -
Sie trug die Brieftasche zurück in die Kammer, steckte sie wieder in den Rock und faltete die Blankoschecks zu einem kleinen Häufchen zusammen. Dann suchte sie weiter im Schlafzimmer . aber dieses Mal war es kein planloses Herumtasten, sondern die Suche ging nach einem bestimmten Gegenstand, von dem sie geglaubt hatte, ihn nie gebrauchen zu können.
Der alte Apotheker Horten hatte einmal seinen Töchtern ein altmodisches Ding geschenkt, als sie so groß waren, daß sie mit der Schule Ausflüge und kleine Reisen unternahmen. Damals hatten Luise und Monika dankend das Geschenk angenommen, sich heimlich angesehen und gedacht, daß der Vater doch schon in einer Welt lebte, die mit der modernen nichts mehr gemeinsam hatte. Dann hatten sie das Geschenk weggelegt, aber nie weggeworfen, weil es eine Erinnerung an den Vater war. Nun kam das Geschenk endlich zu Ehren, allerdings anders, als es sich der alte Horten gedacht hatte.
Es war ein kleiner, lederner Brustbeutel mit einer gedrehten Kordel. Damals sollten die Hortentöchter darin ihr Taschengeld aufbewahren. »Ein Portemonnaie verliert man oft . aber was einem um den Hals hängt, kann man nicht vergessen.« Das hatte der alte Horten gesagt - nun sollte der nie gebrauchte Brustbeutel zum sichersten Versteck für Luise werden.
In einem Kasten mit Jugenderinnerungen fand sie endlich die lederne, kleine Mappe. Sie steckte die zusammengefalteten Schecks hinein, legte die Kordel um den Hals und verbarg den Beutel auf ihrer Brust.
Ein Gefühl des Triumphes durchrann sie . aber gleichzeitig auch eine bedrückende Traurigkeit. Alles, was sie an Illusionen von Liebe, Ehe, Treue, Glück, Zukunft und Erfüllung gehabt hatte, war gestorben. Übrig blieb eine nackte Welt, grausam und gnadenlos, die auch die Gegenwart Robert Sandens noch nicht wieder mit Liebe und Geborgenheit ausfüllen konnte. Der Fall aus dem Himmel der Ideale in die Hölle der Wirklichkeit war so tief, daß Luise Dahlmann sich wie ausgeleert vorkam, wie eine Hülle, die ein Nichts umschloß. Alles, was einmal der Sinn ihres Lebens gewesen war, gab es nicht mehr, und sie war in diesem Stadium ihres Lebens noch zu schwach, einen neuen Zweck des Daseins zu suchen oder zu erkennen. Nur die Enttäuschung war da, riesengroß, allmächtig, und der Haß war da, ebenso gewaltig . aber es waren zwei Dinge, die ein Leben zwar zerstören, aber nicht wiederaufbauen können.