Empfinden, endlich ein freier Mensch zu sein.
Was beginnt man mit sechzigtausend Mark, dachte er, als das Taxi aus der stillen Vorstadt, in der das Krankenhaus lag, hinein in den lärmenden Vormittagsverkehr Hannovers glitt. Zunächst wird man sich ausruhen von den Strapazen, liebender Ehemann einer Blinden zu sein und anders zu sprechen, als man handelt.
Ausspannen und nichts tun. Einen Monat lang. Vielleicht auf Ischia oder Mallorca, faul am Strand liegen, mit den Fingern im heißen Sand spielen, die Füße in den leise plätschernden Wellen, neben sich eine schicke Puppe, die die langen Abendstunden versüßt ... es war das Leben eines stillen Genießers, das dolce far niente des Südens.
Dann aber hieß es, klüger als klug zu sein. Sechzigtausend Mark klingen viel . in Wahrheit sind sie eine lächerliche Summe, wenn man mit ihr ein neues Leben aufbauen will. Man muß sie so anlegen, daß sie ein Fundament bilden, auf dem das neue Haus entsteht.
Ernst Dahlmann hatte in den letzten Monaten viel darüber nachgedacht und Pläne entwickelt und wieder verworfen. Alle Überlegungen endeten schließlich wieder bei der gutbürgerlichen Feststellung, daß Dahlmann ein Apotheker war und es auch bleiben würde. Pharmazie hatte er studiert ... darüber hinaus war er in Wirklichkeit ein hilfloser und unpraktischer Mensch, der keinen inneren Elan besaß, mit einer Handvoll Geld berufsfremde Dinge anzufassen, zu spekulieren, sich hochzuboxen, sein brachliegendes Leben zu kolonisieren, ein Pionier in einem Neuland zu sein. Das lag ihm nicht . er suchte keinen Kampf, er sehnte sich nach Ruhe und Sicherheit. Er war im Grunde seines Herzens ein bequemer Mensch, auch wenn er nach außen hin eine vitale Fassade vorwies und den Eindruck eines Strebenden erweckte. Seine große Sehnsucht war Unabhängigkeit und gesicherte Ruhe, ein Leben ohne Sorgen und Mühen, ein Müßiggehen in bescheidenem Rahmen, ein Beobachten von Mensch und Umwelt aus dem gemütlichen Winkel eines Pensionärs heraus.
Was sind da sechzigtausend Mark?
Ernst Dahlmann hatte keine andere Wahl erkannt . irgendwo auf der Welt, wo man sicher war, vielleicht in Südamerika, konnte er sich an einer Apotheke oder Drogerie beteiligen, vielleicht auch an einer Art Drugstore, wie die Amerikaner ihn kennen, ein kleines Kaufhaus in einer kleinen Stadt, ein Allroundgeschäft mit drei hübschen Verkäuferinnen und einem Kassierer. Am Abend würde man dann die Tageskasse zählen, einen Whisky trinken, vor dem Fernsehgerät sitzen und sich mit seiner Geliebten unterhalten.
Das war der einzige Luxus, den sich Dahlmann gönnen wollte. Ein Leben ohne Frauen schien ihm völlig unlebenswert. Frauen betrachtete er als eine unbedingte Notwendigkeit wie Essen und Trinken. Es war undenkbar, daß ein Mensch wie Ernst Dahlmann seine Tage ohne ein weibliches Wesen verbringen konnte. Das schien ihm die Krönung allen Lebens zu sein, der Gipfel des Erreichbaren, was das Dasein bieten konnte. Eine Frau, die in seinen Armen willenlos wurde. Ein Rausch, der ihm das Herz fast zerriß.
»Wir sind da, mein Herr.«
Dahlmann schreckte hoch. Das Taxi hielt vor dem Portal der Bank, der Fahrer kurbelte am Fahrpreiszähler.
»Fünf Mark fünfundsiebzig«, sagte er.
Dahlmann gab ihm sieben Mark und stieg aus.
Jeder Schritt ist jetzt Freiheit, dachte er beglückt.
Die fünf Stufen hinauf zur Schalterhalle, ein wenig warten, die fünf Stufen hinunter wieder auf die Straße ... dann war es geschafft. Adieu, du mieses Leben als Schatten einer reichen Frau. Adieu, ihr zweiundvierzig Jahre, in denen ich nie richtig glücklich war, sondern immer nur ein Mensch voller Komplexe und Minderwertigkeitsgefühle. Adieu, ihr Erinnerungen . ich will sie aus dem Gedächtnis streichen, ich will ein reines Hirn haben, bereit, die neuen Eindrücke des Lebens zu speichern.
In der Schalterhalle herrschte an diesem Morgen wenig Publikumsverkehr. Dahlmann setzte sich an einen der kleinen Tische mit den Formularkästen, nahm seinen silbernen Kugelschreiber aus der
Innentasche des Jacketts, klappte die Brieftasche auf und empfand einen unbeschreiblichen Vorgenuß bei dem Gedanken, gleich schreiben zu können: 60.000 DM, in Worten: Sechzigtausend Deutsche Mark. Empfänger: Ernst Dahlmann, Hannover.
Dahlmann stutzte. Die wenigen Schreiben und Kontoauszüge waren noch in der Brieftasche, aber die Schecks fehlten.
Er schüttelte den Kopf, blätterte die Auszüge durch, sah in den Seitenfächern der Brieftasche nach . nichts.
Über das Gesicht Dahlmanns rann plötzlich kalter Schweiß. Er fühlte ihn, aber er war zu gelähmt, um ihn abzuwischen. Noch einmal durchsuchte er mit zitternden Fingern die Brieftasche, obwohl er wußte, daß das Ergebnis nicht anders sein konnte.
Die Blankoschecks waren nicht mehr da. Sein neues Leben, aus einem einzigen, kleinen Formular in der Größe von DIN A 6 bestehend, war verschwunden. Mallorca gab es nicht mehr, kein Südamerika, keinen Drugstore, keine Geliebte.
Der Zusammenbruch war so plötzlich und elementar, daß Dahlmann steif und bleich vor seinem Tischchen sitzen blieb, unmöglich, sich bewegen zu können, aufzustehen und zu gehen.
Wie ist das möglich? dachte er immer nur. Wie ist das überhaupt möglich?
Es gab nur eine Erklärung dafür . die Polizei hatte bei der Durchsicht seiner Brieftasche zur Feststellung, wer der Verunglückte war, die Schecks verloren. Vielleicht schon auf der Straße, als man ihn bewußtlos hinter dem Steuerrad aus dem Wagen zog, auf den Asphalt legte und auf den Krankenwagen wartete.
Ich muß etwas tun, sagte er sich. Ich muß sofort etwas tun. Luise muß einen neuen Scheck ausschreiben ... unter irgendeinem Vorwand muß ich sie dazu bewegen. Bezahlung von Lieferantenrechnungen, Wechseleinlösungen, Rechnungen der Baufirmen, die den großen Neubau so weit fertig hatten, daß die Innenarbeiten beginnen konnten. Irgendein Vorwand wird mir noch einfallen.
Zunächst ließ er sich bei dem Direktor der Bank melden. Wie Blei schleppte er die Füße über den Marmorboden, als man ihn ins Chefbüro bat. Dann aber riß er sich zusammen . das Hervorstechendste seines Wesens, sein sichtbares Kapital half ihm wieder - die Blendung, die schon artistische Gabe, Sicherheit und Unbekümmertheit um sich zu verbreiten.
»Guten Morgen, lieber Herr Direktor -«, sagte er forsch. Obwohl er noch ein wenig blaß war, überspielte er den soeben erst erhaltenen Schock mit lauter Burschikosität. »Keine Angst, ich will Ihre Bank nicht plündern . ich möchte nur einen Scheckverlust anmelden. Einen, nein, zwei Blankoschecks. Ich habe sie anscheinend verloren.«
Der Direktor bot Dahlmann Platz an, schob eine Zigarrenkiste über den großen Schreibtisch. Dahlmann winkte ab.
»Betrachten Sie es nicht als Unhöflichkeit, Herr Direktor, aber ich bin in Eile. Leider kenne ich die Schecknummern nicht mehr, es waren ältere Schecks. Ich möchte Sie nur bitten, die Kasse anzuweisen, keinerlei Schecks einzulösen oder zu girieren, die ich nicht persönlich überbringe. Alle vorgelegten Schecks bitte ich zurückzuhalten und mich anzurufen, damit ich in der Ausgangsliste nachsehen kann, ob die Zahlung in Ordnung geht.«
»Selbstverständlich, Herr Dahlmann. Ich gebe es der Kasse gleich durch.« Der Direktor griff zum Telefon, aber bevor er abhob, sah er Dahlmann ein wenig verwundert an. »Übrigens ist das ja gar nicht nötig.«
Dahlmann spürte ein warnendes Zucken in der Brust.
»Wieso?«
»Die Horten-Dahlmann-Konten sind seit gestern sowieso gesperrt -«
Dahlmann war es, als übergösse man ihn mit eiskaltem Wasser. Haltung, sagte er sich. Nun heißt es, Haltung zu haben.
Er lächelte süßlich und etwas verzerrt. »Dann hat meine Frau schon schneller gehandelt als ich. Ich habe die Schecks gestern abend vermißt . wir haben dann nicht mehr darüber gesprochen. Meine Frau ist eben eine hundertprozentige Unternehmerin -«