Vorbei, dachte er. Nun ist es vorbei. Nun bleibt mir nicht einmal mehr ein Tag. Jetzt muß die Entscheidung fallen. Jetzt, in wenigen Minuten.
»Zur Mohren-Apotheke -«, sagte er müde, nachdem sich der Fahrer dreimal fragend geräuspert hatte. »In der -«
»Kenn' ich, die Apotheke -«
Dahlmann nickte. Der Wagen ruckte an, fädelte sich in den Verkehr ein. Dahlmann sah auf die Uhr.
Jetzt haben sie im Krankenhaus längst gemerkt, daß der Patient mit den Rippenbrüchen fehlt. Der Stationsarzt ist in heller Aufregung, der Chefarzt tobt. Sie werden zu Hause angerufen haben. Wäre alles wie nach Plan gegangen, säße er jetzt schon in dem Zug nach Zürich, und mit dem Vorbeifliegen der Landschaft wäre auch seine Vergangenheit verflogen. Mit jedem Meter hätte er sich aus der Gegenwart entfernt und wäre der Zukunft entgegengebraust.
Es bleibt mir jetzt keine Zeit, dachte er immer wieder. Ich muß jetzt um die Minuten rennen.
Es fehlt nur eine kleine Unterschrift.
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Luise Dahlmann erwartete ihren Mann in der Blumenecke des Wohnzimmers. Sie hatte ein dickes Buch mit Blindenschrift vor sich liegen und tastete die Punkte ab. Als die Tür des Zimmers leise klappte, hob sie den Kopf und lauschte.
»Ist da jemand?« fragte sie.
Dahlmann lehnte sich an die Wand. Seine Rippen stachen; er mußte durch den Lauf über die Treppen und die innere Erregung schneller atmen, und jeder Atemzug war wie das Eintreiben eines Nagels in seinen Brustkorb.
»Wer ist denn da?« fragte Luise noch einmal, obwohl sie wußte, wer im Zimmer stand.
»Ich ... Luiserl.«, sagte Dahlmann heiser.
»Ernst?« Luises Kopf hob sich wie in stolzer Abwehr. »Was willst du hier? Du mußt doch noch im Krankenhaus liegen, denke ich?!«
»Freust du dich gar nicht, daß ich gekommen bin?« Dahlmann kam langsam näher. Er schwamm wieder auf der weichen Welle. Er beherrschte sie vorzüglich. Wenn er mit halber, zärtlicher und etwas sonorer Stimme sprach, gab es kein Mädchen- und Frauenherz, das nicht in diesem Wohlklang aufblühte.
»Ich habe es im Krankenhaus einfach nicht ausgehalten, Luiserl. Du weißt, ich kann nicht im Bett liegen, solange ich noch herumkrabbeln kann.« Er stockte und gab seiner Stimme einen tieftraurigen Klang. »Und außerdem hast du mich nie besucht . ich konnte es einfach nicht mehr ertragen ohne dich -«
Luise schwieg. Dahlmanns Heuchelei widerte sie an. Sie lauschte angestrengt ins Zimmer, ob er noch näher kommen würde. Sie spürte eine unbestimmbare Gefahr . ein Gefühl, das sie so stark noch nie gehabt hatte, wenn ihr Mann im Raum war.
Nebenan ist das Hausmädchen, dachte sie. In einer halben Stunde kommt Fräulein Pleschke, in einer Stunde Dr. Kutscher . wenn ich schreie, hört es das Mädchen, und wenn ich aus dem Fenster schreie, hören sie es in der Apotheke und auf der Straße. Das beruhigte sie etwas, die durch den Puls jagende Angst ließ nach . sie legte beide Hände auf das dicke Buch mit der Blindenschrift und wandte das Gesicht voll Dahlmann zu.
»Du warst bei Dr. Kutscher?«
»Ja. Er hat dich angerufen?«
»Natürlich.«
»Du hast die Konten sperren lassen?«
»Ja.«
»Warum?«
»Was wolltest du auf der Bank?«
»Einen Scheck einlösen.« Sie neigte den Kopf erstaunt zur Seite. Er lügt nicht, dachte sie verblüfft. Er sagt es freiheraus.
»Du hattest einen Scheck?«
»Ja. Von dir vor längerer Zeit unterschrieben. Ich brauchte ihn damals nicht, ich nahm das Geld aus der Tageskasse. Und nun, aus dem Krankenhaus entlaufen, wollte ich dir ein Geschenk mitbringen. Ich gehe zur Bank und erlebe die große Erniedrigung, daß man mir, dem Ehemann, den Scheck nicht abnimmt. Ich stand da wie ein begossener Pudel -«
Schwein! dachte Luise. Die Schecks liegen in einem kleinen Lederbeutel auf meiner Brust. Du lügst so elegant wie immer ... mein Gott, wie wäre mein Leben geworden, wenn ich blind geblieben wäre?!
»Das tut mir leid.«, sagte sie abweisend.
»Warum hast du die Konten sperren lassen?«
»Auf den Rat von Dr. Kutscher.«
»Dr. Kutscher sagt, daß du ihn gestern noch spät am Abend angerufen hast, um den Auftrag zu geben. Wer lügt nun? Mein Gott . warum belügt ihr mich denn?!«
»Laß bitte Gott aus dem Spiel!«
»Dann also in drei Teufels Namen: Warum?!« rief Dahlmann. »Du behandelst mich schlimmer als einen räudigen Hund . und ich habe dir immer nur Liebe entgegengebracht, ich habe dich umsorgt, dir jeden Wunsch erfüllt.« Er lehnte sich schwer atmend an das Büfett und preßte beide Hände gegen die bandagierte Brust. Er bekam keinen Atem mehr, es war, als steckten die Rippenstücke in seiner Lunge.
Luise lauschte angestrengt. Er kommt nicht näher, dachte sie. Er steht am Büfett . was gäbe ich jetzt darum, die Brille und die Haftschalen abnehmen zu können und ihn anzusehen, diesen Menschen, dessen Namen ich trage und den ich so wie nichts auf der Welt hassen lernte.
»Du brauchst einen Scheck?« fragte sie.
Dahlmann wurde von dieser Frage völlig überrascht.
»Ja.«, stammelte er.
»Wofür?«
»Wechsel sind fällig. Lieferantenrechnungen ... sechstausend Mark für die Handwerker im neuen Haus -«
»In einer Stunde ist Dr. Kutscher hier. Er wird die Schecks ausstellen.«
Dahlmann spürte ein Kribbeln in seinen Händen. Zum erstenmal spürte er wirklich den übermächtigen Drang, Luise zu töten, zu erwürgen . alle Hemmungen, die er bisher gekannt hatte, alle Feigheit, alles Zurückschrecken vor Taten der eigenen Hände fielen von ihm ab.
»Du behandelst mich wie einen unmündigen Jungen.«, sagte er dumpf. Seine Stimme war dunkel geworden, ein Klang, den Luise noch nicht an ihr kannte und der sie erschreckte. Sie stand auf und trat an das Fenster, um hinausschreien zu können, wenn er näher kam oder sie seinen Griff an sich fühlte. »Luiserl . soll eine glückliche Ehe so enden? Willst du wirklich für einen Schauspieler mich eintauschen? Waren wir nicht immer glücklich? Erinnere dich doch an die Jahre, die hinter uns liegen.«
Luise wandte sich ab. Wie ekelhaft das alles ist, dachte sie. Wie schleimig und kriecherisch.
Sie hörte, wie Dahlmann leise die Schubladen des Büfetts aufzog und suchte, wie er zu Luises Schreibsekretär schlich und auch dort in den Fächern wühlte. Ein triumphierendes Lächeln überzog Luises Gesicht.
»Du suchst vergeblich. Alle Scheckbücher sind bereits bei Dr. Kutscher -«
Dahlmann blieb mit gesenktem Kopf am Schreibsekretär stehen. Die letzte Hoffnung war gestorben ... das Auffinden eines Scheckbuches, auf dem er versuchen konnte, die Unterschrift Luises zu fälschen. Eine gefälschte Vollmacht, diesen Scheck ausgezahlt zu bekommen, war schnell geschrieben auf den Geschäftsbogen der Apotheke.
»Dr. Kutscher kommt gleich«, sagte Luise ruhig. »Er wird alle fälligen Rechnungen, die du ihm vorlegst, bezahlen -«
Es ist vorbei, dachte Dahlmann. Es ist endgültig vorbei. Jetzt bleibt mir nur ein letzter Weg. Erbe zu sein über ein Vermögen, dessen einziger Berechtigter ich bin. Monika ist nicht mehr da, keine anderen Verwandten . und Luise -
Er schluckte und ging zu der kleinen Hausbar. Er spürte, wie weich er in den Knien war, wie grauenhaft ihn der Schauder vor den nächsten Minuten packte.
Sie hat ein Testament gemacht, dachte er, als er die Kognakflasche herausholte. Und wenn sie es heimlich widerrufen hat . wenn niemand mehr übrig ist, erbt der Ehemann. Und wenn der Verbleib von Monika nicht zu klären ist . ich habe die lebenslängliche Nutznießung der Apotheke!
Monika!
Übermorgen sucht man das Moor ab.
Ein Teufelskreis ist es, in dem ich stehe, dachte er mit würgendem Grauen. Ich kann nicht darauf hoffen, daß sie vergeblich suchen. Ich habe keine Zeit mehr.