Er trank. Ein Glas, zwei, drei, vier Gläser, schnell hintereinander. Mut, dachte er. Ich muß Mut haben! Ich kann jetzt kein Feigling sein.
Er trank das fünfte Glas ... das sechste ... er spürte, wie der Alkohol im Gehirn sich verbreitete, wie alles um ihn herum leichter wurde, wie seine Angst ertrank, wie das Schlechte in ihm, das er zu Hilfe rief, überhandnahm und die Hemmungen zur Seite drückte.
»Was tust du?« fragte Luise, ratlos vor der plötzlichen Stille. »Bist du noch im Zimmer?« »Ja. Ich saufe.«, sagte Dahlmann grob. »Ich rette mich dahin, wo die Heimat aller betrogenen Ehemänner ist: Ich betrinke mich!«
Nach dem siebten Glas stellte er die Flasche zurück in den Barschrank. Er war ganz ruhig geworden, von einer seltsamen Kälte. Er spürte keine Schmerzen mehr in der Brust, er empfand keine Angst mehr, er wurde geleitet von einem so klaren, nüchternen Verstand, als sei sein Hirn eine Elektronenanlage, die ohne Rücksicht auf Gefühle oder Skrupel die Schaltungen ausführte, wie sie von ihm gewünscht wurden.
»Wir fahren zu Dr. Kutscher«, hörte er sich mit völlig klarer Stimme sagen. Luise drehte sich zu ihm um.
»Wohin willst du mit mir?«
»Zu Dr. Kutscher.«
»Er kommt gleich hierher.«
»Das ist zu spät. Ich habe dir nicht gesagt, daß ein Wechsel bis heute mittag eingelöst werden muß. Willst du die Blamage auf dich nehmen, daß ein Dahlmann-Wechsel zu Protest geht?«
»Nein -«
Dahlmann rannte aus dem Zimmer. Er holte den Mantel Luises, zog ihn ihr über und ergriff ihre Hand. Ihre Finger waren so eisig wie die seinen, von einer völligen Gefühllosigkeit.
Luise zögerte. Ich müßte sehen können . jetzt müßte ich sehen können, dachte sie. Ich kann nicht mehr unterscheiden, ob er mich wieder belügt oder ob es Wahrheit ist. Aber das wird sich herausstellen, wenn wir bei Dr. Kutscher sind. Dort helfen ihm keine Lügen, dort muß er beweisen können.
Sie gingen die Treppen hinunter, nahmen ein Taxi und fuhren. Aber Dahlmann ließ sie nicht zum Büro Dr. Kutschers fahren, sondern auf seine Anweisung, die er gab, als Luise schon eingestiegen war, umkreisten sie einige Häuserblocks, kehrten fast zur MohrenApotheke zurück und hielten vor dem halbfertigen Neubau.
Vorsichtig, liebevoll wie immer half Dahlmann Luise aus dem Taxi, bezahlte und faßte dann seine Frau unter. Dabei blickte er an der Fassade empor. Sieben Stockwerke . Fenster an Fenster, noch nicht verglast, Türen, die auf Balkons führten, die gegenwärtig nur aus der Plattform bestanden, ohne Geländer oder irgendeinen Schutz. Ein stolzer Bau aus Beton und Glas würde es sein.
Dahlmanns Hand war ganz ruhig, als er Luise eine Locke von der Stirn strich, die der Wind heruntergeweht hatte. Es war fast zärtlich, und ein paar Passanten, die an ihnen vorbeigingen, lächelten verständig.
»Komm -«, sagte Dahlmann ganz ruhig.
Er führte Luise in das Treppenhaus, blieb stehen und klopfte gegen eine angelehnte Tür. Luise neigte verwundert den Kopf.
»Was ist denn?«
»So ein Mist!« sagte Dahlmann. »Der Aufzug ist kaputt! Jetzt müssen wir die Treppen hinaufsteigen. Ich kann es dir nicht ersparen, Luiserl ... fünf Stockwerke, du weißt.«
Er faßte sie wieder unter und stieg mit ihr die Betontreppen hinauf. Ihre Schritte hallten in dem leeren Bau, durch die offenen Fenster und Türen zog der Wind. Luise hob fröstelnd die Schultern.
»Woher zieht es so?«
»Jemand lüftet das Treppenhaus. Ist dir kalt, Liebes?« Er nahm seinen Schal aus dem Mantel und legte ihn Luise um den Hals. Was soll das alles, dachte sie ratlos. Warum ist er so fürsorglich. Warum plötzlich so anders als vorhin?
Sie stiegen langsam die Treppen hinauf bis zum sechsten Stockwerk. Luise zählte die Stufen nicht ... ab und zu blieben sie stehen, verschnauften und stiegen dann weiter hinauf. Ihr Atem wurde kurz, Schweiß trat auf ihre Stirn.
»Das ist ja endlos -«, sagte sie keuchend.
»Wir sind gleich da ... noch ein paar Stufen. So ... da wären wir.«
Dahlmann führte Luise in die leere Wohnung des sechsten Stockwerkes. Die Wände waren noch unverputzt, die Elektrokabel lagen schon in der Wand, Gipssäcke standen herum und zusammengefegte Schmutzhaufen.
Ohne Zögern, als gingen sie über den Flur zu Dr. Kutschers Büro, führte Dahlmann seine Frau durch die Wohnung zu der offenen Balkontür. Dahinter lag die Plattform, und unter ihr die Tiefe, ungeschützt, zweiundzwanzig Meter Luft. Die Baumaschinen und Baubaracken sahen aus wie Spielzeugmodelle.
»Es zieht -«, sagte Luise und blieb abrupt stehen.
Dahlmann atmete tief auf. »Im Haus sind die Maler, Luiserl. Die haben die Fenster zum Teil ausgehängt. Noch fünf Schritte ... dann sind wir am Ziel -«
Luise ging weiter ... den Kopf lauschend erhoben ... geradeaus ... auf das Türloch zu, auf die Plattform ohne Geländer, auf zweiundzwanzig Meter Tiefe.
Zwei Schritte vor dem Abgrund blieb sie stehen. Dahlmann hatte sich von ihr gelöst, den Arm weggezogen, aber er war noch neben ihr, sie hörte seinen Atem und das Knirschen seiner Schritte. Da wehte sie eine Windbö an, als sie auf den Balkon trat. Ein pfeifender Luftstoß, der gegen ihr Gesicht prallte.
»Wo bin ich denn?!« schrie sie plötzlich. Urmächtig überfiel sie die Erkenntnis, daß etwas Furchtbares mit ihr geschah. Es war wie eine Explosion in ihr, die sie mit frierendem Grauen überschüttete.
Es gab kein Zurück mehr, kein Fragen, kein Zögern ... mit beiden Händen riß sie die schwarze Brille vom Gesicht und die Haftschalen von den Augen. Das grelle Licht war wie eine neue Explosion, wie damals, als der Kolben im Labor zerplatzte ... sie taumelte zurück, warf den Arm vor das Gesicht und versuchte, durch einen Spalt der Lider ihre Umgebung zu erkennen.
Sie sah, überhell, vor sich die Weite des Nichts, eine Plattform aus rohem Beton und Dahlmanns Hand, die nach ihr griff und sie nach vorwärts drückte.
»Mörder!« schrie sie grell. »Mörder! Hilfe!«
Sie warf sich herum, schlug auf Dahlmann ein und umkrallte seine Hände, die erneut nach ihr griffen, mit einer stummen, schrecklichen Gewalt.
Dahlmanns Gesicht war leer und bewegungslos. Er handelte wie eine Maschine, die die Aufgabe hat, zu stoßen und hinabzuwerfen.
Ihr Aufschrei störte ihn nicht, es schien, als habe er ihn gar nicht gehört. Er faßte wieder zu, ergriff Luise an den Schultern und drängte sie hinaus auf die Plattform.
»Mörder! Mörder!« schrie Luise und trat gegen seinen Leib. »Ich kann sehen ... ja, ich kann sehen! Ich kann seit Monaten sehen! Ich habe gesehen, was zwischen Monika und dir war, ich habe alle deine Gemeinheiten gesehen, ich habe dir die Blinde vorgespielt. Sieh mich an! Sieh mich an! Ich habe Augen wie du ... ich kann sehen!«
Dahlmann lockerte den Griff. Er starrte in Luises klare Augen. Monika, dachte er, aber es war ein kaltes Denken. Sie hatte recht. Sie konnte immer schon sehen. Und alles, was ich Zufall nannte, war von ihr geplant. Und Monika starb sinnlos, völlig sinnlos... sie wußte ja schon alles.
Dahlmann griff wieder zu. Seine stumme, dumpfe Mordlust war nicht mehr menschlich. Mit ungeheurer Kraft umschlang er den Körper Luises und hob ihn vom Boden weg. Zwei Schritte bis zum Abgrund . ich werde sie tragen, zum letztenmal. Auf den Händen werde ich dich tragen, habe ich gesagt, als wir heirateten. Sieh, nun tue ich es wirklich.
»Du wirst das Gefühl eines Engels haben.«, sagte er plötzlich mit völlig ruhiger Stimme. Er biß sich auf die Lippen und hielt den Atem an.
Ich bin wahnsinnig, dachte er. Wirklich, ich bin wahnsinnig. Ich bin verrückt geworden in diesen Minuten. Wie merkwürdig das ist . ich weiß, daß ich wahnsinnig bin.
Er ließ Luise fallen, weil sie mit beiden Fäusten auf seine Nase schlug. Einen Augenblick war es dunkel um ihn, er fühlte, wie es feucht über seine Augen und über den Mund rann. Er leckte daran ... süßlich, warmes Blut. Kraft hat sie, Kraft... sie hat mich auf die Augen geschlagen, nun schwellen sie zu . aber erst wird sie fliegen . engelhaft.