Er lachte und machte einen Schritt vorwärts.
Es war ein Schritt ins Leere.
Als er es merkte und sich zurückwerfen wollte, war es zu spät, der
Körper kippte nach vorn, lag einen Augenblick waagerecht in der Luft, drehte sich dann im Fallen um sich selbst und bettete sich ein in einen tierischen, grellen Schrei.
Luise schwankte zurück in die Wohnung. Sie hörte den Aufschlag nicht mehr, sie sah nicht, wie sich unten vor dem Neubau die Bauarbeiter um den zerschmetterten Körper drängten, wie eine Frau, vor der Dahlmann auf das Pflaster geprallt war, in Ohnmacht fiel ... sie wankte die Treppen hinunter, verließ das Haus durch die hinteren Gänge und angebauten Garagen und ging nach Hause.
Sie saß unbeweglich, wie versteinert, in der Blumenecke, bis Dr. Kutscher kam. Sein Gesicht war noch blaß von den entsetzlichen Erlebnissen.
»Ihr Mann -«, sagte er heiser. Luise hob die Hand.
»Ich weiß. Ich . ich kann ja sehen. Doktor.«
Erst da wurde sie bewußtlos, bevor Dr. Kutscher sie auffangen konnte.
Der dicke Faber tat sehr erstaunt, als Dr. Kutscher ihn in seinem Amtszimmer besuchte, obwohl er längst auf den Besuch gewartet hatte. Er seufzte, als Dr. Kutscher mit der Höflichkeitsfloskeclass="underline" »Na, wie geht's denn?« eintrat und hob den Blick an die Decke.
»Wir Kriminalisten sind arme Schweine, Doktor«, sagte er und trank einen Schluck Kaffee. Wie immer standen auf Fabers Schreibtisch eine große Thermosflasche und ein wahrer Topf von Tasse. »Gehetzt, geplagt, beschimpft . warum muß es so viele schlechte Menschen geben?!«
Dr. Kutscher setzte sich und lächelte schwach. Er weiß genau, warum ich hier bin, dachte er. Und er klagt die Menschheit an. Er ist schon ein raffinierter Bursche, der dicke Faber.
»Was sagen Sie zu dem Unfall?« fragte er. »Gräßlich, nicht wahr?«
Kommissar Faber nickte und schraubte die Thermosflasche auf. »Fast zwei Promille Alkohol im Blut -«
»Wer?« Dr. Kutscher hatte Mühe, nicht aufzuspringen.
»Ernst Dahlmann. Den meinen Sie doch?! Die Obduktion hat ergeben, daß er volltrunken war. Soll man das nun als einen ungeheuren Glücksfall betrachten?«
Dr. Kutscher legte die Hände gegeneinander. Er erkannte sofort die Möglichkeiten, die sich aus diesem Obduktionsbefund ergaben. Luise würde nie eine Schuld treffen ... selbst die Wahrheit, daß es Notwehr gewesen war, wurde uninteressant. Das offizielle Ergebnis war weit harmloser geworden. Kommissar Faber schüttete sich die Riesentasse erneut voll Kaffee.
»Ihre Luise hat da einen dollen Dusel gehabt«, sagte er dabei. »Nicht wegen des Absturzes . auch so.«
»Was soll das heißen: Auch so -«
»Es wird keinen Skandal geben.«
»Mit so etwas haben wir nie gerechnet -«
Der dicke Faber lächelte gemein. Auch Dr. Kutscher lächelte zurück. Man kannte sich, man brauchte sich nichts vorzumachen.
»Wenn es Sie interessiert.« Faber kramte in den Papieren auf dem Schreibtisch. »Im Konzept habe ich den Abschlußbericht schon fertig: Unfall durch Volltrunkenheit. Dahlmann wollte seinen Neubau besichtigen, trat auf den ungeschützten Balkon hinaus, verlor das Gleichgewicht oder wurde schwindelig und stürzte ab. Ein klarer Tatbestand, untermauert vom gerichtsmedizinischen Institut.« Der dicke Faber legte das Papier zur Seite. »Damit können wir auch die andere Sache einstellen.«
»Was einstellen?«
»Das Ermittlungsverfahren gegen Ernst Dahlmann wegen Mordes -«
»Mord -«
Dr. Kutscher sprang nun doch auf. Es riß ihn einfach vom Stuhl. Faber sah ihn plötzlich ernst an. Dann nickte er mehrmals und legte seine großen Hände um die heiße Tasse.
»Sosehr es mich freut, auch Sie einmal sprachlos zu sehen, Doktor ... so bitterernst ist die Tatsache, daß Dahlmann ein Mörder war. Seit gestern wissen wir es. Wir haben die Leiche von Monika Horten gefunden.«
»Wo? -« Die Stimme Dr. Kutschers war kaum hörbar.
»Im Moor! Wir haben aufgrund einer Beobachtung eines besoffenen Moorbauern den Platz abgesucht, mit langen Stangen und Sonden. War eine Sauarbeit. Aber dann stießen wir auf den Körper. Er war in eine Decke eingewickelt.«
»Und . und wie . hat Dahlmann sie.« Dr. Kutscher verschluckte das Wort getötet. Er war zu sehr erschüttert.
»Durch eine Morphininjektion. Auch das ist ganz klar.« Der dicke Faber trank einen tiefen Schluck. »Durch den >Unfalltod< Dahlmanns können wir nun die Akten schließen. Es bleibt alles unter uns . das meinte ich damit, daß Luise Dahlmann in keinen Skandal verwickelt wird. Zu überdenken ist nur noch, wer ihr den Tod Monikas sagt.«
»Das werde ich übernehmen«, sagte Dr. Kutscher leise.
»Sie nehmen mir damit eine große Last ab, Doktor. Ich danke Ihnen.« Der dicke Faber lächelte wieder. Der Fall war für ihn damit abgeschlossen. Man konnte sich wieder dem angenehmeren Teil des Lebens zuwenden. »Sagen Sie mal, Doktor, wo kaufen Sie Ihre herrlich duftenden Zigarren ein?«
Dr. Kutscher hatte in diesen Minuten keinen Sinn für Fabers Liebhabereien. Er war innerlich zu sehr mit dem Hause Dahlmann verbunden, als daß die Tragödie Luises für ihn nicht mehr bedeuten konnte als nur ein >Fall< unter anderen Fällen.
»Hatten Sie Dahlmann schon immer unter Verdacht?« fragte er heiser.
»Ja.«
»Und warum unternahmen Sie nichts?«
»Ich wollte ihn in Freiheit beobachten. Sie sehen, daß es besser so war . nun hat sich alles aufgelöst ohne großen Wirbel. Ich nehme an, daß Monika Horten in aller Stille beerdigt wird, wenn die
Leiche freigegeben wird.«
»Natürlich -« Dr. Kutscher schluckte. Ein Kloß saß ihm in der Kehle. »Ich begreife nur nicht, wie Dahlmann so etwas. Ich kenne ihn ja seit Jahren. Er war in Wirklichkeit ein Feigling.«
»Vielleicht war das ein wirklicher Unfall.« Der dicke Faber sah wieder an die Decke. »Hat ein zu großes Quantum gespritzt, oder Monika reagierte auf das Morphin übersensibel. Für uns ist das nun gleichgültig . der Mörder ist selbst tot, die Akten werden geschlossen. Überhaupt, wie ist das nun: Ist Luise Dahlmann blind oder nicht?«
»Sie kann sehen, muß aber blind sein.«
Kommissar Faber starrte Dr. Kutscher mit gesenktem Kopf an.
»Doktor, machen Sie mit mir keine faulen Witze.«
»Luise Dahlmann war blind, wurde geheilt, spielte die Blinde, über-anstrengte damit ihre Augen und muß nun für eine bestimmte Zeit freiwillig wieder blind sein, damit sich die Sehnerven beruhigen -«
»Und das soll ich Ihnen glauben?«
»Es ist die Wahrheit.«
»Wenn das in einem Roman stünde, würde man sagen: Der Autor hat seine Phantasie nicht im Zügel. Sie wollen mir also einreden, daß Luise Dahlmann die ganze Zeit über gesehen hat, während wir alle, einschließlich ihr Mann, glaubten, sie sei blind?«
»Genauso ist es.«
»Diese Frau muß Nerven wie Stahlseile haben!« rief der dicke Faber.
»Leider nicht. Jetzt, wo alles überstanden ist, ist auch sie am Ende. Und wenn Sie fragen, wie sie das überhaupt durchgehalten hat ... es gibt darauf nur eine einzige Antwort: Die Kräfte einer Frau, aus deren Liebe Haß wurde, sind unbegreifbar. Gerade Sie im Morddezernat müssen es doch immer wieder sehen -«
»Das stimmt.« Der dicke Faber seufzte. »Was aus so einer Rippe, die man uns klaute, alles werden kann -« Er stand auf und reckte sich. »So, und nun muß ich noch einen entlassen.«
»Entlassen?«
»Den jungen Dichterling Julius Salzer.«
Dr. Kutscher wischte sich über die Augen. »Verzeihen Sie«, sagte er schwach. »Natürlich, der sitzt ja noch immer. Ich habe gestern einen Haftprüfungstermin beantragt . ich habe ihn ganz vergessen, diesen Salzer.«
Der dicke Faber winkte ab.
»Das nimmt er Ihnen gar nicht übel. Er fühlt sich wohl im Knast. Zum erstenmal seit zwei Jahren bekommt er drei Mahlzeiten am Tag, hat ein eigenes Zimmer, kann ungehindert dichten, niemand stört ihn, alle sind freundlich zu ihm .er wird enttäuscht sein, wieder hinaus ins feindliche Leben zu müssen. Der Junge ist tatsächlich zweihundert Jahre zu spät geboren worden. Er ist der letzte Frühromantiker.« Faber stellte seine Thermosflasche und die Riesentasse in das linke Schreibtischfach und schloß es ab, als verwahre er dort einen Schatz. »Kommen Sie mit, Doktor? Es wird nötig sein, den Jungen zu trösten . auch wegen Monika.«