»Das war die letzte ... und es ist auch mein letztes Wort! Ich möchte Luise noch einmal dieses Hoffen, Bangen und Warten und später den seelischen Niederbruch ersparen. Es ist eine Quälerei. Sie haben es gesehen, meine Herren!« Seine Stimme bekam einen glucksenden Klang. Welch ein Schauspieler, dachte Professor Bohne plötzlich, ohne sagen zu können, warum er es dachte und die plötzliche Weichheit Dahlmanns nicht für ernst nahm. »Dieses hier war der letzte Versuch. Ich glaube, auch Sie wissen nicht, an wen ich mich noch wenden sollte und wer mir garantiert, daß die Operation gelingt. Niemand wird das garantieren. Also finden wir uns damit ab, daß meine Frau blind bleibt. Damit ist ihr Leben ja nicht abgeschlossen . es ändert sich nur. Es gibt Schlimmeres, mit dem man sich abfinden muß.«
Professor Bohne schwieg und sah Dr. Ronnefeld an. Dann wan-derte sein Blick zu Monika Horten. Sie stand im Hintergrund des Zimmers an der Wand und weinte noch immer.
»Es ist gut, wenn man sich mit etwas abfinden kann«, sagte er doppelsinnig. »Das erleichtert vieles -«
Ernst Dahlmann überhörte die Untergründigkeit. Er nickte zustimmend. »Wer aber, meine Herren, will ihr sagen, daß sie blind bleibt? Sie hofft doch jetzt.«
»Ich werde das übernehmen.« Professor Bohne zog die Gardine vor das Fenster. »Ich glaube, sie ahnt es.«
Dr. Neuhaus kam zurück. Schon an der Tür nickte er seinem Chef zu. »Sie schläft, Herr Professor.«
»Hat sie noch etwas gesagt?«
»Nein. Kein Wort.«
»Keine Frage?«
»Nichts.«
»Dann weiß sie es.« Ernst Dahlmann atmete heftig. »Wie muß es jetzt in ihr aussehen! Und gerade das wollte ich ihr ersparen.«
Professor Bohne steckte die Hände in seinen weißen Kittel. Wenn diese kalten Augen nicht wären, könnte man ihm jede Erschütterung glauben, dachte er. Aber diese Augen blicken anders, als der Mund spricht ... und auf Augen verstehe ich mich, nicht nur anatomisch.
»Wir werden sie beruhigen, Herr Dahlmann. Und in drei Tagen können Sie Ihre Gattin heimholen. Vielleicht wächst im Laufe eines Jahres auch in Ihnen die Gewißheit, daß eine neue Operation ein Segen sein kann -«
Wenig später sah Professor Bohne zur Straße hinunter. Aus dem Eingang der Klinik kamen Dahlmann und Monika Horten. Sie waren allein, Dr. Ronnefeld besuchte in der Chirurgischen noch zwei Privatpatienten. Dahlmann hatte seine Schwägerin untergefaßt ... aber es war kein helfendes Stützen, sondern ein verliebtes Anschmiegen an ihren schönen, zarten Körper. Sie blieben vor dem Parkplatz stehen, er sagte etwas, er lachte sogar und drückte den Arm Monikas an sich.
»Sie wird doppelt blind sein«, sagte Professor Bohne und wandte sich vom Fenster ab. Neben ihm stand Dr. Neuhaus mit ernstem, fast verbissenem Gesicht. »So ist es im Leben, mein junger Kollege. In dreißig Jahren Praxis habe ich das immer wieder erlebt. Heuchelei und Lüge werden zu lindernden Pflastern für die Blinden -« »Man sollte dem Kerl eine runterhauen, Herr Professor«, zischte Dr. Neuhaus. »Man sollte es ihr sagen -«
»Warum? Was ändern Sie damit?« Professor Bohne hob resignierend die Schultern. »Der Charakter des Menschen ist die einzige Fehlschöpfung Gottes.«
Kapitel 5
In der Nacht, nach einigen Gläsern Wein, die Ernst Dahlmann für sich allein im nur von einer Stehlampe erleuchteten Zimmer getrunken hatte, blieb er nicht wie schon so oft vor der Tür des Fremdenzimmers stehen, sondern faßte die Klinke und drückte sie herunter.
Die Tür war nicht verschlossen. Sie knarrte auch nicht, als er sie vorsichtig öffnete, in den dunklen Raum schlüpfte und sie wieder hinter sich zuzog.
Das erste, was ihm entgegenkam, war ein herbsüßer Parfümgeruch und ein tiefes, gleichmäßiges Atmen. Er blieb an der Tür stehen, lehnte sich dagegen und starrte in die Dunkelheit, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Aus den Schatten wurden Gegenstände ... der Schrank, das Waschbecken, eine Frisierkommode, zwei kleine Sessel, ein Tisch, ein flaches Bett, darüber die Umrisse eines Bildes, eine Steppdecke mit den Wölbungen eines Körpers darunter, ein kleiner, heller Fleck ... der Teil eines Gesichtes und aufgelöste blonde Haare.
Ernst Dahlmann preßte die Lippen zusammen und atmete laut durch die Nase. Eine heiße Welle Blut spülte zu seinen Schläfen und trocknete ihm die Kehle und den Gaumen aus. Sein Herz brannte. Er schluckte mehrmals, und es tat weh, dieses Schlucken mit einer Kehle, die ausgedörrt war wie nach einer Wüstenwanderung.
Langsam ging er auf das Bett zu, setzte sich vorsichtig auf die Kante und beugte sich über Monikas Kopf. Sie schlief wie ein Kind, den Kopf zur Seite, mit fast trotzigen Lippen, die Beine etwas angezogen. Er sah das leichte Zittern ihrer Augendeckel, die sich im Schlaf beim Atmen ein wenig blähenden Nasenflügel, er roch ihren Körper und verfolgte die weiße, weiche Linie ihres Halses bis zu den Spitzen des Hemdes, die den Brustansatz verdeckten. Mit zitternden Fingern streifte er langsam die Steppdecke von ihr ... zentimeterweise, als schäle er eine wertvolle Skulptur aus ihrer schützenden Umhüllung, ein Porzellanfigürchen, zerbrechlich bei jeder rauhen Berührung. Monika Horten seufzte im Schlaf, sie drehte den Kopf, streckte sich und schob einen Arm unter den Kopf.
Das war der Augenblick, in dem Ernst Dahlmann die mühsame Beherrschung verließ. Stumm, nach einem tiefen Aufatmen, warf er sich über sie und riß sie in seine Arme. Den Schrei, den sie ausstieß, erstickte er mit seinen Lippen, er preßte sie in die Kissen zurück, während seine Hände an ihrem Körper auf und ab glitten.
»Bist du wahnsinnig?!« schrie sie, als er Atem schöpfen mußte und ihren Mund freigab. Sie preßte die Fäuste zwischen sich und ihn und zog die Beine an. »Du bist ja betrunken, Ernst! Du bist ... du bist.«
»Ich bin wahnsinnig, ja. Ich bin wahnsinnig.« Dahlmann ergriff ihre Fäuste und drückte sie weg. »Du weißt, daß ich dich liebe . daß ich dich seit der ersten Begegnung liebe, daß ich Luise nur geheiratet habe, um dir nahe zu sein, dich zu sehen, immer und immer wieder zu hoffen, jahrelang, daß einmal diese Stunde kommt, diese Stunde, wie sie jetzt ist. Dafür habe ich hingenommen . die Demütigungen deines Vaters, die Duldung Luises, die Überlegenheit ihres Geistes, die sie mir immer zu spüren gab . alles, alles habe ich in mich hineingefressen, weil ich wußte: Einmal kommt die Stunde, für die ich lebe, für die ich mich geopfert habe. Moni, habe ich gedacht, wenn Luise zärtlich war, und das war selten. Moni, habe ich gefühlt, wenn ich die Hand ausstreckte und ihren Körper spürte. Moni, nur immer Moni . ich habe für dich gelebt, die ganze Zeit . und nun sind wir zusammen, nun kann uns nichts mehr trennen, nun ist uns das Schicksal entgegengekommen.« Er riß sie zu sich, seine heißen Hände fuhren über sie.
»Ernst!« schrie sie. »Das ist doch Irrsinn! Ernst! Sie ist meine Schwester . und sie ist blind -«
»Sie wird nie sehen, wie erfüllt unser Leben ist. Ist das nicht wie eine Fügung? Sie wird es nie erfahren, nie merken . sie wird in einem Traumhaus sitzen . und wir werden glücklich sein . wir alle.«
»Ich kann das nicht, Ernst! Ich kann sie nicht immer belügen . ich habe die Nerven nicht dazu.«
»Ich werde die Nerven für dich mit haben!« Er küßte sie wieder, und er spürte, als er sie umfing, wie sie zitterte und wie der innere Widerstand in seiner Glut verbrannte. Noch einmal versuchte sie, mit den Fäusten ihn wegzudrängen, sich zur Seite zu wälzen, die
Lippen fest zusammenzupressen. Dann, ganz plötzlich, als schalte man ein Licht aus, wurde sie schlaff, erstarb aller Widerstand, lag sie hilflos in seinen Armen, um ebenso plötzlich wieder zu entbrennen, aber anders, gebend und fordernd, mit spitzen Nägeln, die sich in seinen Rücken gruben und einen Schmerz in ihm aufrissen, den er wie Wonne empfand.
»Es ist Wahnsinn, Ernst.«, stammelte sie. »Mein Gott, wie wahnsinnig sind wir.«