»Das Leben geht weiter.«, sagte sie leise. »Es muß ja weitergehen, denn was sollten wir sonst mit unserem Leben anfangen.?«
Sanden nickte stumm. Welch eine Frau, dachte er dabei. Woher nimmt sie bloß die Kraft?!
Und er schämte sich wirklich, daß er kein Wort sagen konnte aus Angst, seine Stimme könne schwanken.
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Dr. Kutscher sah nach dieser >Wiederkehr< Luises - wie er es nannte - den Zeitpunkt für gekommen, um die nötigen Nachlaßformalitäten und den weiteren Geschäftsgang zu regeln.
»Ihr Mann hat hunderttausend Mark hinterlassen«, sagte er zu Luise Dahlmann. »Er war im Todesfalle mit fünfzigtausend Mark und bei Tod durch Unglück mit der doppelten Summe versichert. Aufgrund der Polizeiprotokolle zahlt die Versicherung die Summe aus. Ich habe alles vorbereitet -«
»Ich will sie nicht haben.« Luise saß wieder vor ihrem Tonbandgerät, die Augen mit den Haftschalen bedeckt und verbunden. »Noch einen Monat Blindheit«, hatte Dr. Saviano aus Bologna auf Anfrage Robert Sandens geschrieben. »Hoffentlich hat der Nervenschock keine Nachwirkungen an den Augen hinterlassen . das wäre dann unrettbar.«
»Hunderttausend Mark!« sagte Dr. Kutscher eindringlich.
»Gründen Sie in meinem Namen eine Stiftung für blinde Kinder.« Luise wandte den Kopf zur Seite. »Ich will dieses Geld nicht sehen. Können Sie das nicht verstehen?«
Dr. Kutscher pflichtete bei, obgleich er auf dem Standpunkt stand, daß man hunderttausend Mark nicht ansieht, woher sie gekommen sind. Aber hier war eine Grenze zwischen der Gefühlswelt einer Frau und dem nüchternen Verstand eines Mannes. Darüber gab es keine Brücke.
»Wie soll die Stiftung heißen?« fragte er. Es schlüpfte ihm so heraus ... kaum, daß er es gesagt hatte, schalt er sich einen Narren.
Luise wandte ihm den Kopf zu. Ihre Stimme war ganz klar.
»Dahlmann-Stiftung. Wie sonst?«
»Natürlich ... wie sonst.«
Dr. Kutscher verabschiedete sich schnell und ging.
Das soll man begreifen, dachte er auf der Treppe und schüttelte den Kopf. Es ist leichter, die vierte Dimension zu erklären, als die Seele einer Frau. Wir Männer kommen nie dahinter.
Es lag schon Schnee, als Professor Bohne in Münster die Binde von Luises Augen nahm und sie an das Fenster führte. Ein langes Telefongespräch mit Professor Siri in Bologna war dieser entscheidenden Stunde vorausgegangen.
Die Sonne lag golden über den Bäumen des Parks, unter dem Dach eines Futterhauses drängten sich die Vögel. Ein wolkenloser Him-mel überwölbte die Kälte.
»Wie ist der Schnee?« fragte Professor Bohne.
»In der Sonne bläulichweiß«, antwortete Luise laut.
»Spüren Sie einen Druck, wenn Sie in den grellen Himmel sehen? Einen Druck innen im Kopf..?«
»Nein.«
Luise schüttelte langsam den Kopf.
»Keine Dumpfheit hinter den Augen, so, als drücke jemand auf die Augäpfel?«
»Nein . nichts. Es ist alles so schön . so bunt, selbst der Schnee ... und ... alles so selbstverständlich -«
Am Arm Robert Sandens verließ Luise wenig später die Klinik. Ich werde weiter sehen, dachte sie unendlich glücklich. Ich werde immer, immer sehen können ... die Knospen im Frühling, die Blüten im Sommer, die Früchte im Herbst und die Eisblumen im Winter.
Ich kann sehen!
Professor Bohne stand am Fenster seines Zimmers und wartete, daß Luise Dahlmann und Robert Sanden zum Wagen gingen und abfuhren. Er wartete ungewöhnlich lange, sah dann verwundert auf die Uhr und wandte sich zu Dr. Neuhaus, seinem Assistenten, um.
»Sie sind noch nicht aus dem Bau, Neuhaus«, sagte er etwas unruhig. »Ich freue mich immer, wenn ich glücklichen Menschen nachsehen kann, wie sie meine Klinik verlassen. Sie geben einem den Genuß innerer Ruhe und Zufriedenheit. Wo bleiben denn unsere beiden bloß?!«
»Die?!« Dr. Neuhaus lächelte fröhlich. »Die toben hinten durch den Garten ... sie machen eine Schneeballschlacht... wie Kinder sind sie -«
»Wundert Sie das?« Professor Bohne trat vom Fenster zurück. Auch er lächelte mit der Weisheit des Alters. »Sie laufen ja jetzt in ein neues, unbekanntes Leben -«