Außerdem… Scherkaner setzte sich wieder auf sein Sitzgitter und griff sorgsam nach Lenkrad, Gashebel und Bremse. Nicht nur die Osprechs beobachteten ihn. Er schaute nach allen Seiten, die Augen hatten sich inzwischen an die Dämmerung gewöhnt. Da waren zwei von denen. Sie lauerten zu beiden Seiten von ihm im Schatten. Keine Tiere, keine Leute. Kinder? Vielleicht fünf oder zehn Jahre alt. Das kleinere hatte noch Babyaugen. Doch ihr Blick war tierhaft, raubtierhaft. Sie schoben sich näher an das Auto heran.
Scherkaner gab Gas und ruckte vorwärts. Kurz bevor er den kleinen Bach erreichte, bemerkte er eine dritte Gestalt — größer —, in den Bäumen überm Wasser verborgen. Es mochten Kinder sein, doch dieses Versteckspiel war ernst. Scherkaner riss das Lenkrad nach rechts und sprang aus den Rillen heraus. Er war von der Straße abgekommen — oder? Vor ihm lagen schwache, eingeebnete Furchen: die wirkliche Furt!
Er fuhr in den Bach, dass das Wasser zu beiden Seiten hochspritzte. Der Große in den Bäumen sprang. Ein langer Arm kratzte seitlich über das Auto, doch das Wesen landete seitlich von Scherkaners Weg. Und dann hatte Unterberg das andere Ufer erreicht und schoss den Hang hinauf. Ein echter Hinterhalt hätte hier in einer Sackgasse geendet. Doch die Straße ging weiter, und irgendwie schaffte er es, bei der rasenden Fahrt nicht zur Seite getragen zu werden. Es gab einen letzten Augenblick der Angst, als er aus dem Dach des Waldes herauskam. Die Straße wurde steiler, und der Relmeitch kippte eine Sekunde lang zurück, drehte sich auf den Hinterreifen. Scherkaner warf sich von seinem Sitzgitter nach vorn, das Auto krachte herab und sauste über die Hügelkuppe.
Schließlich parkte er unter Sternen an einem noch nicht ganz dunklen Himmel neben dem Haus, das er von der anderen Seite des Tals gesehen hatte.
Er schaltete den Motor aus und blieb eine Weile sitzen, rang nach Atem und hörte zu, wie das Blut in seiner Brust hämmerte. Es war so still. Er schaute sich um, niemand verfolgte ihn. Und wenn er zurückdachte… es war seltsam. Als letztes hatte er gesehen, wie der Große langsam aus dem Bach kletterte. Die beiden anderen hatten sich abgewandt, als interessiere es sie nicht.
Er war bei dem Haus, das er von der anderen Seite aus gesehen hatte. An der Vorderfront gingen Lichter an. Eine Tür wurde geöffnet, und eine alte Dame kam auf die Veranda heraus. »Wer ist da?« Die Stimme klang kräftig.
»Dame Enclearre?« Scherk brachte nur eine Art Quieken hervor. »Der Postmeister hat mir Ihre Adresse gegeben. Er sagte, Sie hätten ein Zimmer für die Nacht zu vermieten.«
Sie kam auf die Fahrerseite und musterte ihn. »Das tu ich. Aber Sie kommen zu spät zum Abendessen, Sie werden mit ein paar kalten Saugs vorlieb nehmen müssen.«
»Ach. Das ist in Ordnung, schon ganz in Ordnung.«
»Gut. Kommen Sie rein.« Sie lachte leise und deutete mit einer kleinen Hand auf das Tal, dem Scherkaner soeben entkommen war. »Sie haben garantiert was hinter sich, Jungchen.«
Trotz ihrer Worte setzte Dame Enclearre Scherkaner eine gute Mahlzeit vor. Anschließend saßen sie in ihrem vorderen Salon und schwatzten. Es war sauber, aber etwas schäbig. Der abgesackte Fußboden war nicht repariert, hier und da blätterte die Farbe ab. Es war ein Haus am Ende seiner Zeit. Doch die blassen Glimmlampen ließen ein Buchregal zwischen den verhängten Fenstern erkennen. Es gab ungefähr hundert Titel, größtenteils Kinderfibeln. Die alte Dame (und sie war wirklich alt, zwei Generationen früher als Scherk geboren) war eine Gemeindelehrerin im Ruhestand. Ihr Mann hatte das letzte Dunkel nicht überstanden, doch sie hatte Kinder großgezogen — inzwischen selber alte Kupps —, die überall ringsum in diesen Bergen lebten.
Dame Enclearre war anders als alle Stadtlehrer. »Oh, ich bin herumgekommen! Als ich jünger war als Sie jetzt, bin ich auf dem Westmeer gefahren.« Eine Seefahrerin! Scherkaner lauschte mit unverhohlener Ehrfurcht ihren Geschichten von Orkanen und Grizzards und Eisbergausbrüchen. Nicht viele Leute waren verrückt genug, Matrosen zu werden, selbst in den Jahren des Schwindens. Dame Enclearre hatte Glück gehabt, dass sie alt genug geworden war, um Kinder zu bekommen. Vielleicht war das der Grund, dass sie sich in der nächsten Generation dem Schulunterricht widmete und ihrem Mann half, die Kupplinge großzuziehen. Jedes Jahr hatte sie die Bücher für das darauffolgende studiert und war so ein Jahr vor den Gemeindekindern geblieben, die ganze Zeit, bis sie erwachsen waren.
In dieser Helle hatte sie die neue Generation unterrichtet. Als sie erwachsen waren, kam sie wirklich in die Jahre. Eine Menge Kupps schaffen es in die dritte Generation, wenige durchleben sie ganz. Dame Enclearre war viel zu gebrechlich, um sich selbst auf das bevorstehende Dunkel vorzubereiten. Doch sie hatte ihre Kirche und die Hilfe ihrer eigenen Kinder; sie würde eine Chance bekommen, eine vierte Hellzeit zu erleben. In der Zwischenzeit beschäftigte sie sich mit ihrem Klatsch und las Bücher. Sie interessierte sich sogar für den Krieg — allerdings als eifrige Zuschauerin. »Verpasst diesen verdammten Bassern einen Tunnel in den Hintern, sag ich. Ich habe zwei Großnichten an der Front, und ich bin sehr stolz auf sie.«
Während Scherkaner zuhörte, starrte er durch Dame Enclearres breite, mit feiner Gaze bespannte Fenster nach draußen. Die Sterne waren hier in den Bergen so hell, hatten tausend verschiedene Farben, erleuchteten schwach die breiten Blätter des Waldes und die Berge dahinter. Winzige Waldelfen tickten unablässig gegen die Gaze, und von den Bäumen ringsum hörte er ihren schrillen Gesang.
Unvermittelt begann eine Trommel zu dröhnen. Sie war laut, die Vibrationen drangen durch seine Fußspitzen und die Brust ebenso wie in die Ohren. Ein zweites Trommeln begann, bald synchron mit dem ersten, bald verschoben.
Dame Enclearre hörte auf zu reden. Missmutig lauschte sie dem Lärm. »Das kann noch Stunden so gehen, fürchte ich.«
»Ihre Nachbarn?« Scherkaner deutete nach Norden zu dem kleinen Tal. Es war interessant, dass sie abgesehen von ihrer Bemerkung, er habe ›etwas hinter sich‹, kein Wort über diese seltsamen Leute im Tal verloren hatte.
… Und vielleicht würde sie es auch jetzt nicht tun. Dame Enclearre ließ sich knirschend auf ihr Sitzgitter zurücksinken und schwieg zum ersten Mal seit seiner Ankunft etwas länger. Dann: »Sie kennen die Geschichte von den Faulen Waldelfen?«
»Gewiss.«
»Ich habe ihr im Unterricht viel Raum gewidmet, besonders bei den Fünf- und Sechsjährigen. Sie sind mit den Kankern verwandt, weil sie wie kleine Leute aussehen. Wir haben beobachtet, wie bei ihnen Flügel wachsen, und ich habe von denen erzählt, die sich nicht auf das Dunkel vorbereiten, sondern immer weiter spielen, bis es zu spät ist. Ich konnte eine ziemlich beängstigende Geschichte draus machen.« Sie zischte ärgerlich in ihre Esshände. »Wir sind elend arm hier in der Gegend. Deswegen bin ich weggegangen und zur See gefahren, und deswegen bin ich auch zurückgekommen, um zu versuchen, es besser zu machen. Etliche Jahre lang habe ich meine ganze Bezahlung als Lehrerin in Gutscheinen von Bauerngenossenschaften bekommen. Aber ich möchte, dass Sie wissen, junger Mann, dass wir gute Leute sind… Außer dass es hier und da Kupps gibt, die sich entschieden haben, Ungeziefer zu sein. Nur ein paar, und größtenteils weiter oben in den Bergen.«
Scherkaner schilderte den Hinterhalt am Grunde des Tals.
Dame Enclearre nickte. »Ich dachte mir, dass es so was war. Sie kamen hier hoch, als hätten Sie Feuer unterm Hintern. Sie haben Glück gehabt, dass Sie mit Ihrem Auto dort herausgekommen sind, aber in großer Gefahr waren Sie nicht. Ich meine, wenn Sie bei denen stillgehalten hätten, hätten sie Sie tottreten können, aber im Grunde sind sie zu faul, um eine echte Bedrohung zu sein.«