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Unnerbei hielt inne, schien seine Wut zu bezähmen. »Ach, aber ich werde Ihnen eine komische Geschichte erzählen, ehe ich Sie mit einem Tritt in den Hintern zurück nach Weißenberg schicke. Sehen Sie, ich bin ein bisschen unausgeglichen.« Er regte die linken Beine. »Eine Auseinandersetzung mit einem Schredder. Bis ich wieder gesund bin, helfe ich, die hirnrissigen Ideen auszufiltern, mit denen Leute wie Sie uns bombardieren. Zum Glück kommt der meiste Mist mit der Post. Ungefähr alle zehn Tage warnt uns ein Kupp vor dem Tieftemperatur-Allotrop des Zinns…«

Huch, spreche ich womöglich mit einem Ingenieur?

 »… und dass wir es nicht im Lötmittel verwenden sollen. Bei denen stimmen wenigstens die Fakten, sie verschwenden nur unsere Zeit. Doch dann sind da die anderen, die mal eben was über Radium gelesen haben und der Ansicht sind, wir sollten aus dem Zeug Super-Gräberköpfe machen. Wir haben unter uns einen kleinen Wettbewerb, wer die größten Idioten kriegt. Also, Herr Unterberg, ich denke, Sie haben mich zum Gewinner gemacht. Sie gedenken sich in der Mitte der Dunkelzeit wecken zu lassen und dann über Land zu reisen, bei tieferen Temperaturen, als man sie in jedem kommerziellen Labor findet, und in einem Vakuum, wie nicht einmal wir es herstellen können.« Unnerbei machte eine Pause; war er vielleicht betroffen, dass er ein Stückchen geheime Information preisgegeben hatte? Dann begriff Scherkaner, dass der Feldwebel auf etwas schaute, das sich in seinem blinden Fleck befand.

 »Leutnant Schmid! Guten Tag, Frau Leutnant.« Der Feldwebel nahm beinahe Haltung an.

 »Guten Tag, Hrunkner.« Die Sprecherin kam ins Gesichtsfeld. Sie war… schön. Ihre Beine waren schlank, hart, gebogen, und jede Bewegung war von zurückhaltender Eleganz. Ihre Uniform war ein Schwarz in Schwarz, das Scherkaner nicht erkannte. Die einzigen Abzeichen waren die fernroten Rangsterne und das Namensschild. Viktoria Schmid. Sie sah unglaublich jung aus. Zur Unzeit geboren? Das konnte sein, und die übertriebene Respektsbezeugung des Innendienstlers war dann eine Art Spott.

Leutnant Schmid wandte ihre Aufmerksamkeit Scherkaner zu. Sie wirkte auf eine distanzierte, fast amüsierte Weise freundlich. »So, Herr Unterberg, Sie sind Forscher an der mathematischen Fakultät der Königsschule.«

 »Nun ja, eigentlich eher ein Jungakademiker…« Ihr schweigender Blick schien eine eingehendere Antwort zu verlangen. »Äh… Mathematik ist eigentlich nur das Fachgebiet, das in meinem offiziellen Programm steht. Ich habe eine Menge Kurse an der Medizinschule und in Technischer Mechanik besucht.« Halbwegs erwartete er eine grobe Bemerkung von Unnerbei, doch der Feldwebel war plötzlich sehr still.

 »Dann verstehen Sie die Natur des Tiefsten Dunkels, die extrem tiefen Temperaturen, das Hochvakuum.«

 »Jawohl. Und ich habe über diese Probleme eine Menge nachgedacht.« Fast ein halbes Jahr lang, aber das sage ich lieber nicht. »Ich habe zahlreiche Ideen, ein paar vorläufige Entwürfe. Manche von den Lösungen sind biologisch, und da habe ich noch nicht viel vorzuzeigen. Aber ich habe Prototypen für einige der mechanischen Aspekte des Projekts mitgebracht. Sie sind draußen in meinem Automobil.«

 »Ach ja. Zwischen den Wagen von General Grüntal und General Niederer geparkt. Vielleicht sollten wir einen Blick drauf werfen — und Ihren Wagen an einen sichereren Ort bringen.«

Die ganze Erkenntnis kam erst Jahre später, doch in diesem Augenblick hatte Scherkaner Unterberg den ersten Schimmer davon. Unter allen Leuten im Landeskommando — unter allen Leuten auf der ganzen weiten Welt — hätte er keinen geeigneteren Zuhörer als Leutnant Schmid finden können.

Sechs

In den letzten Jahren einer Schwindenden Sonne gibt es Stürme, oft heftige. Doch das ist nicht die reißende, explosive Qual der Stürme einer Neuen Sonne. Die Winde und Schneestürme des anbrechenden Dunkels zeigen die Welt eher als ein Opfer, das von einem Dolchstich tödlich verwundet ist und nur noch schwach zuckt, während das Blut des Lebens ausströmt. Denn die Wärme der Welt ist ihr Lebenselixier, und während das hinaus ins Dunkel sickert, kann die sterbende Welt immer weniger dagegen aufbegehren.

Es kommt eine Zeit, da hundert Sterne am selben Himmel wie die Mittagssonne zu sehen sind. Dann tausend Sterne, und schließlich wird die Sonne nicht mehr schwächer — und das Dunkel ist wirklich da. Die größeren Pflanzen sind längst gestorben, das Pulver ihrer Sporen liegt tief unterm Schnee verborgen. Die niederen Tiere sind denselben Weg gegangen. Organischer Schmutz sprenkelt die windabgewandten Seiten der Schneewehen, und gelegentlich umspielt ein Glühen frei liegende Leichen — die Geister der Toten, wie klassische Beobachter schrieben; ein letztes Fressen der Bakterien, wie Wissenschaftler späterer Epochen entdeckten. Doch noch leben Leute an der Oberfläche. Manche sind die künftigen Mordopfer, von stärkeren Stämmen (oder stärkeren Nationen) daran gehindert, die Zufluchtsorte in den Tiefen aufzusuchen. Andere sind die Opfer von Überschwemmungen oder Erdbeben, deren ererbte Tiefen zerstört worden sind. In alten Zeiten gab es nur eine Möglichkeit, zu erfahren, wie das Dunkel wohl tatsächlich wäre: Wenn man an der Oberfläche gestrandet war, konnte man eine vergängliche Unsterblichkeit erlangen, indem man aufschrieb, was man sah, und die Geschichte so sicher verwahrte, dass sie die Feuer der Neuen Sonne überstand. Und gelegentlich überlebte einer dieser draußen Gebliebenen ein, zwei Jahre lang im Dunkel, sei es durch außergewöhnliche Zufälle, sei es durch kluge Planung und den Wunsch, ins Herz des Dunkels zu schauen. Ein Philosoph überlebte so lange, dass jene, die seine Worte über ihren Tiefen in Stein geritzt fanden, sie für ein Erzeugnis des Wahnsinns oder eine Metapher hielten: »… und die trockene Luft gefriert zu Raureif.«

In einem Punkt stimmten die Propagandisten der Krone mit denen von Basville überein: Dieses Dunkel würde anders sein als alle zuvor. Dieses Dunkel würde als Erstes von der Wissenschaft im Dienste des Krieges direkt in Angriff genommen werden. Während sich die Millionen ihrer Bürger in die stillen Häfen von tausend Tiefen zurückzogen, kämpften die Armeen beider Seiten weiter. Oft fanden die Kämpfe in offenen, mit Dampf beheizten Gräben statt. Doch die entscheidenden Dinge spielten sich unterirdisch ab, beim Graben von Tunneln, die weit unter den Frontlinien beider Seiten hindurchliefen. Wo sie sich trafen, wurden erbitterte Schlachten mit Maschinengewehren und Giftgas ausgetragen. Wo es nicht zu einer Begegnung kam, gingen die Tunnel immer weiter durch den Kalkfelsen der Ostfront, Meter um Meter, Tag für Tag, noch lange, nachdem alle Kämpfe an der Oberfläche zum Erliegen gekommen waren.

Fünf Jahre nach Anbruch des Dunkels führte nur eine technische Elite, vielleicht zehntausend aufseiten der Krone, den Feldzug unter der Ostfront fort. Selbst bei ihnen, tief unter der Erde, lagen die Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Kammerlinggetriebene Ventilatoren ließen frische Luft zirkulieren. Die letzten Luftlöcher würden bald zufrieren.

»Wir haben seit fast zehn Tagen keine Aktivitäten von Basville gehört. Das Gräberkommando beglückwünscht sich in einem fort.« General Grüntal schnippte sich ein Aromatikum in den Schlund und mampfte laut; der Geheimdienstchef des Einklangs war nie für besondere Diplomatie bekannt gewesen, und in den letzten Tagen war seine Laune merklich schlechter geworden. Er war ein alter Kupp, und obwohl die Bedingungen beim Landeskommando vielleicht die günstigsten waren, die es noch irgendwo auf der Welt gab, begann selbst hier eine extreme Phase. In den Bunkern unweit der Königlichen Tiefe waren noch an die fünfzig Leute bei Bewusstsein. Jede Stunde schien die Luft ein wenig stickiger zu werden. Seine stattliche Bibliothek hatte Grüntal vor über einem Jahr aufgegeben. Jetzt bestand sein Büro aus einem Käfterchen von sechs mal drei mal anderthalb Metern im toten Raum über dem Schlafsaal. Die Wände des kleinen Zimmers waren mit Karten bedeckt, der Tisch mit Fernschreiber-Berichten über Drahtverbindung. Die drahtlose Verbindung war gut siebzig Tage früher endgültig zusammengebrochen. Im Jahr davor hatten die Funker der Krone mit immer stärkeren Sendern experimentiert, und es hatte Hoffnung bestanden, die drahtlose Verbindung bis ganz zum Schluss aufrechterhalten zu können. Aber nein, es war nichts als Drahttelegraphie und Funk auf Sichtweite geblieben. Grüntal schaute seinen Besuch an, zweifellos den letzten, der in über zweihundert Jahren zum Landeskommando kommen würde. »Also, Oberst Schmid, Sie sind eben aus dem Osten zurückgekommen. Warum höre ich keinerlei Jubel von Ihnen? Wir haben den Feind überdauert.«