Die Aufmerksamkeit von Viktoria Schmid war vom Periskop des Generals gefesselt worden. Das war der Grund, warum sich der General in seinem Kabäuschen hier oben festgesetzt hatte — ein letzter Blick auf die Welt. Der Königsfall war vor mehr als zwei Jahren zum Stillstand gekommen. Sie konnten das ganze Tal entlang schauen. Ein dunkles Land, jetzt von einem geisterhaften Raureif überzogen, der sich endlos auf Fels und Eis gleichermaßen bildete. Kohlendioxid, das aus der Atmosphäre ausfiel. Aber Scherkaner wird eine viel kältere Welt als diese sehen.
»Oberst?«
Schmid trat vom Periskop zurück. »Entschuldigung, Herr General… Ich bewundere die Gräber von ganzem Herzen.« Zumindest die Soldaten, die die eigentliche Arbeit tun. Sie war in ihrer Feldtiefe gewesen. »Aber es ist Tage her, seit sie eine feindliche Stellung erreichen konnten. Weniger als die Hälfte werden nach dem Dunkel kampftauglich sein. Ich fürchte, das Gräberkommando hat den richtigen Punkt zum Aufhören verpasst.«
»Hm ja«, missmutig. »Das Gräberkommando hat den Rekord für die Fortdauer der Operationen aufgestellt, aber die Basser haben Vorteile davon, dass sie gerade dann aufhörten, als sie es taten.« Er seufzte und sagte etwas, das ihm unter anderen Umständen womöglich eine unehrenhafte Entlassung eingebracht hätte, aber wenn man fünf Jahre über den Weltuntergang hinaus ist, hören nicht mehr viele zu. »Wissen Sie, die Basser sind nicht so übel. Wenn Sie es auf lange Sicht betrachten, dann finden sie widerwärtigere Typen unter unseren eigenen Verbündeten, die darauf warten, dass die Krone und Basville sich gegenseitig zu Klump hauen.
Das ist es, worauf wir unsere Pläne ausrichten sollten, auf die nächsten Bösewichter, die uns an den Kragen wollen werden. Wir werden diesen Krieg gewinnen, aber wenn wir ihn mit den Tunneln und den Gräbern gewinnen müssen, dann werden wir noch Jahre nach Beginn der Neuen Sonne kämpfen.«
Er biss herzhaft auf sein Aromatikum und ließ eine Vorderhand auf Schmid zuschnellen. »Ihr Projekt ist unsere einzige Chance, das zu einem sauberen Schluss zu bringen.«
Schmids Antwort kam abrupt: »Und die Chancen wären noch besser gewesen, wenn Sie mir erlaubt hätten, bei der Gruppe zu bleiben.«
Grüntal schien die Beschwerde nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Viktoria, Sie sind jetzt seit sieben Jahren bei diesem Projekt. Glauben Sie wirklich, dass es klappen kann?«
Vielleicht war es die abgestandene Luft, die sie alle benommen machte. Unentschlossenheit passte überhaupt nicht zum öffentlichen Bild von Streb Grüntal. Sie kannte ihn seit neun Jahren. Unter seinen engsten Vertrauten war Grüntal eine aufgeschlossene Person — bis zu dem Punkt, wo finanzielle Entscheidungen zu treffen waren. Dann war er der Mann ohne Zweifel, der ganzen Reihen von Generälen und sogar den politischen Beratern des Königs Paroli bot. Nie hatte sie eine derart traurige, verlorene Frage von ihm gehört. Jetzt sah sie einen alten, alten Mann, der sich in ein paar Stunden dem Dunkel ergeben würde, vielleicht zum letzten Mal. Die Erkenntnis war, als würde man sich gegen ein vertrautes Geländer lehnen und fühlen, wie es nachzugeben beginnt. »Herr General, wir haben unsere Ziele gut ausgewählt. Wenn sie zerstört werden, müsste Basville fast sofort kapitulieren. Unterbergs Gruppe befindet sich in einem See keine zwei Meilen von den Zielen entfernt.« Und das war an sich eine gewaltige Leistung. Der See lag in der Nähe von Basvilles wichtigstem Versorgungszentrum, hundert Meilen tief im Basser-Gebiet.
»Unnerbei und Unterberg und die anderen brauchen nur eine kurze Strecke zurücklegen, Herr General. Wir haben ihre Anzüge und die Exotherms über viel längere Zeiträume getestet, unter Bedingungen, die fast ebenso…«
Grüntal lächelte schwach. »Ja, ich weiß. Die Zahlen habe ich dem Generalstab oft genug eingetrichtert. Aber jetzt sind wir wirklich drauf und dran, es zu tun. Bedenken Sie, was das bedeutet. Die letzten paar Generationen hindurch haben wir Typen vom Militär immer mal wieder ein Stückchen am Rande des Dunkels entweiht. Aber Unnerbeis Gruppe wird die Mitte des Tiefsten Dunkels sehen. Wie mag das wirklich sein? Ja, wir glauben es zu wissen: die gefrorene Luft, das Vakuum. Aber das ist alles geraten. Ich bin nicht fromm, Oberst Schmid, aber ich frage mich, was sie wohl finden werden.«
Fromm oder nicht, all der alte Aberglaube von Schneetrollen und Erdengeln schien direkt hinter den Worten des Generals zu lauern. Selbst die rationalsten Leute zitterten vor dem Gedanken an ein Dunkel, so intensiv, dass in gewissem Sinne die Welt nicht existierte. Mit einer Anstrengung ignorierte Viktoria Schmid die Gefühle, die Grüntals Worte heraufbeschworen. »Ja, Herr General, es könnte Überraschungen geben. Und ich würde diesen Plan als voraussichtlichen Misserfolg einordnen, wäre da nicht ein Punkt: Scherkaner Unterberg.«
»Ihr Lieblings-Verrückter.«
»Ja, ein Verrückter von der außergewöhnlichsten Sorte. Ich kenne ihn seit sieben Jahren — seit jenem Nachmittag, als er mit einem Wagen voller halbfertiger Prototypen und einem Kopf voller abgedrehter Pläne aufkreuzte. Zum Glück für uns hatte ich an dem Nachmittag nicht viel zu tun. Ich hatte Zeit, zuzuhören und mich zu amüsieren. Der durchschnittliche Akademiker bringt es in seinem Leben vielleicht auf zwanzig Ideen. Unterberg hat zwanzig pro Stunde, bei ihm ist das fast wie ein Hirnkrampf. An der Geheimdienstschule kannte ich Leute, die fast ebenso extrem waren. Der Unterschied ist, dass Unterbergs Ideen zu ungefähr einem Prozent machbar sind — und dass er die guten von den schlechten einigermaßen genau unterscheiden kann. Vielleicht wäre jemand anders auch auf den Gedanken gekommen, Sumpfschlamm zu verwenden, um die Exotherms zu züchten. Sicherlich hätte jemand anders seine Ideen bezüglich der Schutzanzüge haben können. Doch er hat die Ideen und bringt sie zusammen, und sie funktionieren.
Doch das ist noch nicht alles. Ohne Scherkaner hätten wir nicht annähernd all das umsetzen können, was wir in den letzten sieben Jahren verwirklicht haben. Er hat eine magische Fähigkeit, kluge Leute für seine Pläne einzuspannen.« Sie erinnerte sich an Hrunkner Unnerbeis wütende Verachtung an jenem ersten Nachmittag, wie sie sich binnen Tagen verändert hatte, bis Hrunkners technische Phantasie völlig von den Ideen aufgesogen wurde, mit denen ihn Scherkaner überschüttete. »In gewisser Hinsicht hat Unterberg keine Geduld für Einzelheiten, doch das spielt keine Rolle. Er erzeugt eine Umgebung, die sich darum kümmert. Er ist einfach… bemerkenswert.«
Was für beide nichts Neues war; Grüntal argumentierte seinen eigenen Chefs gegenüber seit Jahren so. Doch es war die beste Vergewisserung, die Viktoria dem alten Kupp jetzt geben konnte. Grüntal lächelte, und sein Blick war seltsam. »Warum heiraten Sie ihn dann nicht, Oberst?«
Schmid hatte nicht vorgehabt, darauf zu sprechen zu kommen, doch verdammt, sie waren allein und am Ende der Welt. »Das habe ich vor, Herr General. Aber wir haben Krieg, und Sie wissen, dass ich… nicht viel für die Tradition übrig habe; wir werden nach dem Dunkel heiraten.« Viktoria Schmid hatte einen einzigen Nachmittag gebraucht, um zu erfassen, dass Unterberg die seltsamste Person war, die sie je getroffen hatte. Sie hatte noch ein paar Tage gebraucht, um zu begreifen, dass er ein Genie war, das wie ein Dynamo verwendet werden konnte, verwendet werden, um buchstäblich den Verlauf eines Weltkriegs zu ändern. Binnen fünfzig Tagen hatte sie Streb Grüntal davon überzeugt, und Unterberg wurde in seinem eigenen Labor versteckt, um das herum weitere Laboratorien emporschossen, um dem Projekt zuzuarbeiten. Zwischen ihren eigenen Einsätzen hatte Viktoria Pläne geschmiedet, wie sie sich des Unterberg-Phänomens — denn so dachte sie und dachte der Geheimdienststab von ihm — zu ihrem dauernden Nutzen bemächtigen könnte. Heirat war der naheliegende Zug. Eine traditionelle Heirat-im-Schwinden hätte sich günstig auf ihre Karriere ausgewirkt. Es wäre alles perfekt gewesen, außer dass Scherkaner Unterberg nicht in den Plan passte. Scherk war jemand, der seine eigenen Pläne hatte. Schließlich war er ihr bester Freund geworden, jemand, mit dem man ebenso gut Pläne schmieden konnte wie über ihn. Scherk hatte Pläne für die Zeit nach dem Dunkel, Dinge, die Viktoria nie gegenüber einem anderen wiederholte. Ihre wenigen anderen Freunde — sogar Hrunkner Unnerbei — mochten sie, obwohl sie ein Unzeitling war. Scherkaner Unterberg fand tatsächlich Gefallen an dem Gedanken, Unzeit-Kinder zu haben. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Viktoria jemandem begegnet, der mehr als nur Akzeptanz für sie aufbrachte. Also führten sie zunächst einmal Krieg. Wenn sie beide überlebten, gab es eine andere Welt mit Plänen und einem gemeinsamen Leben — nach dem Dunkel.