Anne starrte das runde Gesicht an, das schwache Lächeln. Alan Nau. Tomas Nau. Oh… Gott… Gott. Sie war in einem Albtraum erwacht, der nie zu Ende gegangen war. Die Foltergruben und dann die Fokussierung, und dann ein Leben lang selbst der Feind sein.
Silipans Gesicht verzog sich, doch seine Stimme war auf einmal zuversichtlich. »Sieh, Pham! Sie weint. Sie erinnert sich!«
Ja. An alles.
Doch jetzt klang Pham Nuwens Stimme noch wütender. »Geh raus, Trud. Geh einfach raus.«
»Es lässt sich leicht überprüfen. Wir können…«
»Raus!«
Danach hörte sie Silipan nicht mehr. Die Welt war in Schmerz versunken, eine schluchzende Gram, die ihr den Atem und die Sinne nahm.
Sie fühlte einen Arm um ihre Schultern gelegt, und diesmal wusste sie, dass es nicht die Berührung eines Folterknechts war. Wer bin ich? Das war die leichte Frage gewesen. Die wirkliche Frage, Was bin ich?, hatte sich ihr noch ein paar Sekunden entzogen, doch jetzt strömten die Erinnerungen auf sie ein, das ungeheuerliche Böse, das sie seit jenem Tag in den Bergen über Arnham gewesen war.
Sie zuckte vor Phams Arm zurück — und traf auf die Gurte, die sie niederhielten.
»Entschuldigung«, murmelte er, und sie hörte, wie die Fesseln abfielen. Und jetzt spielte es keine Rolle. Sie krümmte sich zu einer Kugel zusammen, war sich seiner tröstenden Hand kaum bewusst. Er redete mit ihr, einfache Dinge, die er wieder und wieder auf verschiedene Weise wiederholte. »Es ist jetzt gut, Anne. Tomas Nau ist tot. Es ist seit vier Tagen tot. Sie sind frei. Wir alle sind frei…«
Nach einer Weile schwieg er, nur die Berührung seines Arms an ihren Schultern kündete von seiner Anwesenheit. Ihr Schluchzen klang ab. Jetzt gab es keinen Schrecken mehr. Das Schlimmste war geschehen, immer wieder, und was blieb, war tot und leer.
Zeit verstrich.
Sie fühlte, wie sich ihr Körper langsam entspannte, streckte. Sie zwang ihre fest geschlossenen Augen auf, zwang sich, sich umzuwenden und Pham anzuschauen. Ihr Gesicht schmerzte vom Weinen, und wie sehr wünschte sie, ihr würde ein millionenfacher Schmerz zugefügt. »Sie… Sie sollen verflucht sein, dass Sie mich zurückgeholt haben. Lassen Sie mich jetzt sterben.«
Pham schaute sie ruhig an, seine Augen waren weit offen und aufmerksam. Die Großspurigkeit war verschwunden, von der sie immer geahnt hatte, dass sie vorgetäuscht war. Stattdessen Intelligenz… Ehrfurcht? Nein, das konnte nicht sein. Er griff neben ihr herab und legte die weißen Andelirs wieder auf ihren Schoß. Die verdammten Dinger waren warm, pelzig. Schön. Er schien ihre Forderung zu bedenken, doch dann schüttelte er den Kopf. »Sie dürfen uns noch nicht verlassen, Anne. Es gibt hier noch über zweitausend fokussierte Menschen. Sie können sie befreien, Anne.« Er wies auf die Fokusgeräte hinter ihr. »Ich hatte das Gefühl, dass Al Hom Roulette spielte, als er an Ihnen arbeitete.«
Ich kann sie befreien. Der Gedanke war die erste Helligkeit in all den Jahren seit jenem Morgen in den Bergen. Er musste in ihren Gesichtsausdruck durchgesickert sein, denn auf Phams Lippen erschien ein hoffnungsvolles Lächeln. Anne spürte, wie sich ihre Augen verengten. Sie wusste über Fokus so viel wie nur irgendein Balacreaner. Sie kannte alle Tricks des Umfokussierens, des Umlenkens der Loyalität. »Pham Trinli — Pham Wer-auch-immer —, ich habe Sie viele Jahre lang beobachtet. Fast von Anfang an. Ich glaubte, dass Sie gegen Tomas arbeiteten. Doch ich sah auch, wie sehr Sie die Idee des Fokus liebten. Es hat Sie nach dieser Macht gelüstet, nicht wahr?«
Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht. Er nickte langsam. »Ich habe gesehen… ich habe gesehen, dass mir Fokus das verschaffen konnte, wofür ich ein Leben lang gekämpft hatte. Und am Ende sah ich, dass der Preis zu hoch ist.« Er zuckte die Achseln und senkte den Blick wie beschämt.
Anne starrte in dieses Gesicht und dachte nach. Es hatte eine Zeit gegeben, da nicht einmal Tomas Nau sie täuschen konnte. Als Anne fokussiert war, waren die Kanten ihres Geistes rasiermesserscharf gewesen, ungetrübt von Ablenkungen und Wunschdenken — und Tomas’ wahre Absichten zu kennen, nützte ihr nicht mehr, als wenn ein Beil weiß, dass es zum Morden dient. Jetzt war sie sich nicht sicher. Dieser Mann log vielleicht, doch was er von ihr verlangte, war, wonach sie sich mehr als nach allem anderen auf der Welt sehnte. Und dann, wenn sie ihre Schuld beglichen hatte, so gut sie es vermochte, konnte sie sterben. Sie erwiderte sein Achselzucken. »Tomas Nau hat Sie über Fokus belogen.«
»Er hat über vieles gelogen.«
»Ich kann es besser machen als Trud Silipan und Bil Phuong, aber es wird trotzdem Misserfolge geben.« Und der größte Schrecken: Es würde Menschen geben, die sie dafür verfluchten, dass sie sie zurückgeholt hatte.
Pham langte über die Blumen hinweg und nahm ihre Hand. »Gut. Aber Sie werden Ihr Möglichstes tun.«
Sie schaute auf diese Hand hinab. Noch immer quoll Blut aus der klaffenden Wunde, die sie in die Seite seiner Handfläche gebissen hatte. Irgendwie log der Mann, doch wenn er sie die anderen defokussieren ließ… Geh darauf ein. »Sie haben jetzt das Kommando?«
Pham kicherte. »Ich habe einiges zu sagen. Gewisse Spinnen haben mehr zu sagen. Es ist kompliziert, und es ist noch im Chaos. Vor vierhundert Kilosek hatte noch Tomas Nau das Kommando.« Sein Lächeln wurde breiter, begeisterter. »Aber in hundert Megasek, zweihundert Megasek, glaube ich, werden wir eine Renaissance erleben. Wir werden unsere Schiffe reparieren lassen. Verdammt, vielleicht bekommen wir neue. Ich habe nie eine Chance wie diese erlebt.«
Geh einfach darauf ein. »Und was wollen Sie von mir?« Wie lange wird es dauern, bis ich als dein Werkzeug wieder fokussiert werde?
»Ich… ich möchte einfach, dass Sie frei sind, Anne.« Er schaute weg. »Ich weiß, was Sie früher gewesen sind. Ich habe die Geschichte gesehen, was Sie auf dem Frenk getan haben, wie Sie schließlich gefangen genommen wurden. Sie erinnern mich an jemanden, den ich als Kind gekannt gekannt habe. Sie hat sich auch gegen eine überwältigende Übermacht gestellt, und sie ist auch zermalmt worden.« Er wandte ihr wieder halb das Gesicht zu. »Es hat Zeiten gegeben, da ich Sie mehr als Tomas Nau gefürchtet habe. Doch seit ich erfuhr, dass Sie der Frenkische Ork waren, habe ich dafür gebetet, Sie würden eine bessere Zeit erleben.«
Er war so ein unglaublich guter Lügner. Zu schade für ihn, dass seine Lüge so dreist war, so nachgiebig. Sie empfand einen überwältigenden Drang, sie ad absurdum zu führen: »In ein paar Jahren werden wir also wieder funktionsfähige Sternenschiffe haben?«
»Ja, und wahrscheinlich besser ausgerüstet als die, in denen wir gekommen sind. Sie wissen, was wir hier an Physik entdeckt haben. Und anscheinend gibt es noch andere Dinge…«
»Und Sie werden über diese Schiffe gebieten?«
»Über einige davon.« Er nickte noch immer und trieb seine Täuschung weiter voran.
»Und Sie wollen einfach nur helfen. Mir, dem Frenkischen Ork. Nun ja, mein Herr, Sie sind beispiellos geeignet. Leihen Sie mir diese Schiffe. Kommen Sie mit mir zur Balacrea, zum Frenk und zum Gaspr. Helfen Sie mir, alle Fokussierten zu befreien.«
Es war amüsant, zu sehen, wie Phams Lächeln gefror, während er von ihren Worten sprachlos war. »Sie wollen ein Imperium mit interstellarer Raumfahrt stürzen, ein Imperium mit Fokus, wenn Sie selber nur eine Handvoll Schiffe haben? Das ist…« Für solchen Wahnsinn fehlten ihm die Worte, und einen Augenblick lang starrte er sie nur an. Dann kehrte erstaunlicherweise sein Lächeln zurück. »Das ist wunderbar! Anne, geben Sie mir Zeit für Vorbereitungen, Zeit, hier Bündnisse zu schließen. Geben Sie mir ein Dutzend von Ihren Jahren. Wir werden vielleicht nicht gewinnen. Aber ich schwöre, wir werden den Versuch unternehmen.«