Doch heute schlichen sie sich nicht durch jemandes Schlaf. Heute waren die Lichter sehr hell, und als sie sich schließlich in den Untergrund begaben, war es so krass und fremdartig wie Ritser Brughels Spinnen-Albträume. Die Treppen waren steil wie Leitern, und gewöhnliche Räume hatten so niedrige Decken, dass Ezr und Zinmin in die Knie gehen mussten, um sich fortbewegen zu können. Trotz althergebrachten Drogen und Jahrtausenden von genetischer Optimierung war die volle Kraft planetarer Gravitation eine ständige schwächende Irritation. Sie wurden in Räumen untergebracht, von denen Zinmin behauptete, es seien Wohnungen von königlichem Standard, Zimmer mit haarigen Böden und Decken, die hoch genug waren, um darin aufrecht zu stehen. Die Verhandlungen begannen am Tag darauf.
Die Spinnen, die sie in den Übersetzungen kennengelernt hatten, waren größtenteils abwesend. Belga Untersiedel, Elno Kalthafen — das waren Namen, die Ezr wiedererkannte, doch sie waren immer weiter weg gewesen. Sie waren nicht an Scherkaner Unterbergs Gegenlauer beteiligt gewesen. Sie mussten sich allerdings wohl doch mit Viktoria Lichtberg beraten. Im Laufe der Verhandlungen zog sich Untersiedel immer wieder zurück, und es gab zischelnde Gespräche mit Personen, die nicht zu sehen waren.
Nach den ersten paar Tagen erkannte Ezr, dass manche von diesen Personen sehr weit entfernt waren: Trixia. Als sie wieder in ihren Räumen waren, rief Ezr L1 an. Natürlich wurde die Verbindung von den Spinnen überwacht. Ezr kümmerte das nicht. »Du hast mir gesagt, dass die Defokussierung von Trixia läuft.«
Die Pause wirkte viel länger als zehn Sekunden. Plötzlich konnte Ezr nicht mehr auf die Entschuldigungen und Ausflüchte warten. »Hör zu, verdammt! Du hast versprochen, dass sie defokussiert würde. Früher oder später müsst ihr aufhören, sie zu benutzen!«
Dann kam Phams Stimme zurück. »Ich weiß, Ezr. Das Problem ist, die Spinnen haben darauf bestanden, dass sie zur Verfügung steht, noch fokussiert. Wir ruinieren die Verhandlungen, wenn wir uns weigern… und Trixia weigert sich, bei der Defokussierung mit uns zusammenzuarbeiten. Wir müssten sie dazu zwingen.«
»Das ist mir egal. Es ist mir egal! Denen gehört sie ebenso wenig wie Tomas Nau.« Er würgte an der Angst und hätte sich beinahe übergeben. Auf der anderen Seite des Zimmers sah Zinmin Broute so glücklich aus, wie Ezr je einen Blitzkopf gesehen hatte. Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem haarigen Teppich und blätterte in einer Art Spinnen-Bilderbuch. Ihn benutzen wir auch. Wir müssen, nur noch ein Weilchen.
»Ezr, es ist nur für kurze Zeit. Anne leidet auch darunter, aber es ist der einzige sichere Einblick, den die Spinnen zu uns haben. Den Fokussierten vertrauen sie fast. Alles, was wir sagen, jede Behauptung besprechen sie mit den Blitzern. Ohne dieses Vertrauen haben wir keine Chance, die Leute von der Hand zurückzubekommen. Und auch keine Chance, das Unheil aus der Welt zu schaffen, das Nau angerichtet hat.«
Rita und Jau. Das Kästchen mit dem Daumenschloss lag obenauf in Ezrs Gepäck. Seltsam. Die Spinnen hatten nicht darauf bestanden, dies oder seine anderen Sachen zu kontrollieren. Ezrs Widerstand brach zusammen. »Gut. Aber nach diesen Besprechungen wird niemand mehr einen anderen besitzen. Sonst werden die Verhandlungen scheitern — werde ich sie zum Scheitern bringen.« Er unterbrach die Verbindung, ehe eine Antwort eintreffen konnte. Schließlich spielte es keine Rolle, was der andere erwiderte.
Fast jeden Tag unternahmen sie den qualvollen Abstieg in denselben unheimlichen Konferenzraum. Zinmin behauptete, dies sei das persönliche Büro der Geheimdienstchefin, ein ›helles und vertikal gegliedertes Zimmer mit Nischen und isolierten Sitzgittern‹. Nun ja, es gab Nischen, dunkle kannelierte Kamine mit verborgenen Höhlungen am oberen Ende. Und die Bilder entlang der Wände waren permanenter Unsinn. Er und Zinmin mussten kalten Stein überqueren, um dann auf Fellstapeln zu sitzen. Für gewöhnlich waren vier oder fünf Spinnen anwesend, darunter fast immer Untersiedel oder Kalthafen.
Doch die Verhandlungen liefen eigentlich gut. Da die Fokussierten seine Geschichte bestätigten, schienen die Spinnen zu glauben, was Ezr zu sagen hatte. Sie schien zu verstehen, wie gut es werden konnte, wenn sie nur ein wenig zusammenarbeiteten. Ja doch, die Spinnen konnten sich bei dem Felshaufen einrichten. Technologie würde ohne Einschränkungen auf den Planeten transferiert werden, als Gegenleistung für den Zugang der Menschen zum Planeten. Mit der Zeit würden der Felshaufen und die Temps in eine hohe Arachna-Umlaufbahn verlagert werden, und man würde gemeinsam eine Schiffswerft bauen.
Jeden Tag Kilosekunden lang bei den Spinnen zu sitzen, war eine ermüdende Erfahrung. Der menschliche Geist war nicht dafür geschaffen, mit solchen Wesen warm zu werden. Sie schienen keine Augen zu haben, nur die kristallenen Schalen, die besser als jedes menschliche Auge zu sehen schienen. Man konnte nie sagen, wohin sie schauten. Ihre Esshände waren ständig in Bewegung, mit Bedeutungen, die Ezr gerade erst zu verstehen begann. Und wenn sie mit ihren Hauptarmen gestikulierten, waren die Bewegungen abrupt und aggressiv, wie ein Wesen im Angriff. In der Luft stand ein bitterer, abgestandener Geruch, der am stärksten war, wenn sich zusätzliche Spinnen ringsum versammelten. Und nächstes Mal bringen wir unsere eigenen Toiletten mit. Ezr bekam allmählich O-Beine von den Versuchen, sich den hiesigen Anlagen anzupassen.
Zinmin erledigte den Großteil der interaktiven Übersetzung. Doch Trixia und die anderen waren zugegen, und manchmal, wenn größte Genauigkeit vonnöten war, war es ihre Stimme, die Untersiedels oder Kalthafens Worte sprach: Untersiedel die unerbittliche Polizistin, Kalthafen der elegante junge General. Trixias Stimme, die Seelen anderer.
Nachts kamen Träume, oft unangenehmer als die Wirklichkeit, der sie sich am Tage gegenüber sahen. Die schlimmsten waren diejenigen, die er verstehen konnte. Trixia erschien ihm, ihre Stimme und ihre Gedanken glitten hin und her zwischen der jungen Frau, die er einst gekannt hatte, und den fremdartigen Persönlichkeiten, die sie jetzt besaßen. Manchmal verwandelte sich ihr Gesicht in eine glasige Schale, während sie sprach, und wenn er nach der Veränderung fragte, sagte sie, er bilde sich da etwas ein. Es war eine Trixia, die für immer fokussiert bleiben würde, verwunschen, verloren. Qiwi kam in vielen von den Träumen vor, manchmal das Balg, manchmal so, wie sie gewesen war, als sie Tomas Nau tötete. Sie redeten miteinander, und oft gab sie ihm einen Rat. In den Träumen hatte immer Sinn, was sie sagte — und wenn er erwachte, konnte er sich nie an die Einzelheiten erinnern.
Eine nach der anderen wurden die Fragen geklärt. Sie waren in weniger als einer Million Sekunden vom Völkermord zum Handel fortgeschritten. Von L1 kam Pham Nuwens Stimme voller Freude über den Fortschritt. »Die Kerle verhandeln wie Kauffahrer, nicht wie Regierungen.«
»Wir geben eine Menge auf, Pham. Seit wann haben Kunden eine Vertretung unter uns, wie wir sie den Spinnen einräumen?«
Die übliche lange Pause. Doch Pham klang immer noch heiter. »Sogar das kann etwas bringen, mein Junge. Ich würde wetten, dass manche von diesen Spinnen später einmal Partner sein möchten.« Dschöng Ho.
»Noch etwas«, fuhr Pham fort. »Bring die Verhandlungen über die Kriegsgefangenen zum Abschluss« — die einzige noch offene Frage —, »und wir werden Trixia aus der Sache herausnehmen können. Lichtberg hat das als Versprechen von der Untersiedel-Fraktion erhalten.«
Der letzte Verhandlungstag begann wie die anderen. Zinmin und Ezr wurden eine ›Wendeltreppe‹ hinabgeführt — so nannte es Zinmin. In menschlichen Begriffen war es ein senkrechter Schacht, der in den Felsen gehauen war. Ein endloser Schwall warmer Luft strich nach oben an ihnen vorbei. Der Schacht hatte einen Durchmesser von fast zwei Metern, an den Wänden befanden sich fünf Zentimeter breite Simse. Ihre Wachen hatten keine Mühe; sie konnten von einer Seite des Schachtes zur anderen reichen und sich an allen Seiten abstützen. Beim Hinabsteigen drehten sich die Spinnen langsam mit der Spirale. Etwa alle zehn Meter gab es eine Einbuchtung, einen ›Treppenabsatz‹, wo sie Atem schöpfen konnten. Ezr war gleichzeitig dankbar und unangenehm berührt wegen der Gurte mit Leine, die er nach dem Willen der Wachen tragen musste.