»Diese Treppen dienen wirklich nur dazu, uns einzuschüchtern, nicht wahr, Zinmin?« Er hatte die Frage schon früher auf den Treppen gestellt, doch Zinmin Broute hatte ihn keiner Antwort gewürdigt.
Der fokussierte Übersetzer war auf den schmalen Vorsprüngen sogar noch unsicherer als Ezr, zumal er die spezielle Haltung mit gespreizten Beinen nachzuahmen versuchte, die nur für Spinnen Sinn hatte. Heute reagierte er auf die Frage: »Ja… Nein. Das ist die Haupttreppe hinab in die Königliche Tiefe. Sehr alt. Traditionell. Eine Ehre…« Er rutschte ab, schwang über dem Abgrund, einen Augenblick lang nur an seinem Seil und Gurtwerk von dem Wächter über ihm gehalten. Ezr drückte sich an die feuchte Wand, wurde beinahe selbst weggeschlagen, als Broute wieder Halt fand.
Sie erreichten den letzten Absatz. Die Decke war sogar nach Spinnenmaßstäben niedrig, nur knapp über einen Meter hoch. Von ihren Wächtern umringt, humpelten sie gebückt auf breite, breite Türen zu. Dahinter war die Beleuchtung schwach und blau. Die Spinnen konnten in so einem großen Spektrum sehen. Man sollte meinen, sie bevorzugten Beleuchtung, die dem ganzen Sonnenspektrum entsprach. Doch häufig wählten sie schwaches Schimmern — oder Licht, bei dem ein Mensch nichts mehr sah.
Aus dem Dämmerlicht vor ihnen kam ein vertrautes Zischeln.
»Kommen Sie herein. Setzen Sie sich«, sagte Zinmin Broute, doch der Gedanke kam von der Spinne im Zimmer. Ezr und Zinmin überquerten die Steinplatten zu ihren ›Sitzgittern‹. Ezr sah jetzt sein Gegenüber, eine große weibliche Spinne auf einem leicht erhöhten Sitz. Ihr Geruch war stark in der stehenden Luft. »General Untersiedel«, sagte er höflich.
Im Vergleich zu den bereits gelösten Problemen hätte die Frage der Kriegsgefangenen einfach sein müssen. Doch er bemerkte, dass sie diesmal mit Untersiedel allein waren. Hier gab es keine Sprechverbindungen nach draußen; zumindest wurden keine angeboten. Sie waren allein, fast im Dunkeln, und Zinmin Broutes Wortwahl trieb zu drohenden Wendungen hin. Es war Angst einflößend… doch irgendwo aus den Tiefen von Ezr Vinhs Kauffahrer-Kindheit stiegen Erkenntnisse hoch. Das war gewollt einschüchternd. Untersiedel hatte Lichtberg versprochen, dass die Übersetzer frei sein würden, wenn die Verhandlungen über die Kriegsgefangenen abgeschlossen wären. Sie hatte in so vielen Dingen nachgeben müssen; dies hier war ihr letzter Versuch, das Gesicht zu wahren.
Er öffnete sein Gepäck und nahm eine Datenbrille heraus. Den Spinnen zufolge hatten alle Menschen an Bord der Hand die erzwungene Landung überlebt. Die Wrackteile des Sternenschiffs waren über zwanzigtausend Meter Ozeaneis verstreut, die bewohnten Mannschaftsdecks waren praktisch die einzigen intakten Teile. Dass überhaupt jemand überlebt hatte, war ein Wunder und auf die Ratschläge zurückzuführen, die Pham den Blitzkopf-Piloten gegeben hatte. Am Boden allerdings hatte es zahlreiche Todesfälle gegeben. Gegen jede Vernunft hatten Brughel und seine Schlagetote ein Feuergefecht mit den eintreffenden Spinnentruppen vom Zaun gebrochen. Die Schlagetote waren alle umgekommen. Mit der Wendigkeit eines wahren Hülsenmeisters hatte Brughel sie im letzten Augenblick verlassen und versucht, sich unter der überlebenden Mannschaft zu verbergen. Die Spinnen behaupteten, nach diesem ersten Schusswechsel habe es keine Todesfälle gegeben.
»Die Blitzköpfe können Sie zurückbekommen«, sagte Untersiedel durch Zinmin. »Wir wissen, dass sie nicht verantwortlich sind, und manche von ihnen haben unseren Sieg möglich gemacht.« Zinmins Ton war Besorgnis erregend. »Die übrigen sind Verbrecher. Sie haben Hunderte getötet. Sie haben versucht, Millionen umzubringen.«
»Nein, nur eine kleine Minderheit war daran beteiligt. Die übrigen haben Widerstand geleistet — oder sind einfach über die Aktion belogen worden.«
Ezr ging die Besatzungsliste durch und erklärte die Rolle der einzelnen Mitglieder. Es hatten zwanzig arme Seelen im Kälteschlaf gelegen, Ritsers spezielle Spielzeuge. Sie waren offensichtlich Opfer, doch Untersiedel wollte die Ausrüstung nicht aufgeben. Einen um den anderen erhielt Ezr von Untersiedel die Erlaubnis zur Freilassung, unter der Voraussetzung des Zugangs zu Fachleuten, die die Ruinen erklären konnten, über die ihre Dienststelle jetzt verfügte. Schließlich waren sie bei den schwierigsten Fällen angelangt. »Jau Xin. Pilotenverwalter.«
»Jau Xin, der Mann am Abzug«, sagte die Generalin. Ezr hatte die Verstärkung seiner Datenbrille hochgefahren. Seine Sicht war nicht so trübe wie vorher. Das ganze Gespräch über hatte Untersiedel sehr ruhig dagesessen, die einzige Bewegung war das unablässige Spiel ihrer Esshände gewesen. Es war eine Haltung, die Zinmin als Wachsamkeit mit vorgerecktem Gesicht wiedergab. »Jau Xin steht unter Anklage, die eigentlichen Angriffe ausgelöst zu haben.«
»General, wir haben die Aufzeichnungen durchgesehen. Ihre Befragungen von Jaus fokussierten Piloten sind wahrscheinlich noch vollständiger. Uns ist klar, dass Jau einen Großteil des Angriffs der Aufsteiger sabotiert hat. Ich kenne Jau, Frau General. Ich kenne seine Frau. Beide sind ihrem Volk wohlgesonnen.« Die Blitzkopf-Analytiker, darunter Trixia, glaubten, derlei Bezugnahmen auf die Familie könnten von Bedeutung sein. Vielleicht. Doch Belga Untersiedel war vielleicht viel eher der klassische Typ des Vertreters ›nationaler Interessen‹.
Zinmin Broute tippte auf seiner winzigen Tastatur, brachte Ezrs Worte in eine Zwischensprache und steuerte dann die Tonausgabe. Gespenstisches Zischeln kam aus Broutes Lautsprecher, Ezrs Gedanken, wie eine Spinne sie vielleicht aussprach.
Untersiedel schwieg einen Augenblick, stieß dann einen schrillen Schrei aus. Ezr wusste, dass das als verächtliches Schnauben galt.
Doch dieses Gespräch konnte letzten Endes anderen Spinnen gezeigt werden. Ich lass dich nicht vom Haken, Untersiedel. Ezr langte in sein Gepäck und hielt Ritas winzige Schachtel hoch.
»Und was ist das?«, fragte Untersiedel. Es schwang keine Andeutung von Neugier in der Stimme von Broute-als-Untersiedel.
»Ein Geschenk an Jau Xin von seiner Frau. Eine Erinnerung, falls Sie sich immer noch weigern, ihn freizulassen.«
Untersiedel saß fast zwei Meter entfernt, doch selbst jetzt war Ezr nicht bewusst, wie weit die Vorderarme einer Spinne reichen konnten. Vier speerähnliche schwarze Arme schossen auf ihn zu, nahmen das Kästchen aus seinem Griff. Untersiedels Arme schossen zurück, hielten das Kästchen erst an eine, dann an eine andere Stelle ihrer glasigen Schale. Ihre Stiletthände machten kleine kratzende Geräusche, als sie neugierig am Deckel der Schachtel und am Daumenschloss hantierten.
»Sie ist auf Jau Xin codiert. Wenn Sie sie mit Gewalt öffnen, wird der Inhalt zerstört.«
»Dann wird er eben zerstört.« Doch die Spinne hörte auf, die spitzen Enden ihrer Glieder gegen das Kästchen zu drücken. Sie hielt es noch einen Moment fest, stieß dann ein knirschendes Zischen aus und warf es Ezr vor die Brust.
Das hässliche Knirschen dauerte an, als Zinmin Broute übersetzte. »Eure verdammten Kuppli-Augen!« Broutes Stimme war angespannt und wütend. »Nehmen Sie dieses Geschenk für einen Mörder zurück. Nehmen Sie Xin und die andere Besatzung zurück.«