Grundasche selbst lag unweit vom Zentrum eines ausgedehnten schwarzen Flecks, im Laufe von Jahrhunderten hervorgebracht von ›nuklear sauberen‹ Raketentreibstoffen. Es war Trilands größter Boden-Raumhafen, doch das jüngste Wachstum der Stadt war so trostlos und slumartig wie in allen anderen Städten auf dem Planeten.
Ihr Flieger schaltete auf Rotoren um und zog langsam tiefer gehend über die Stadt hinweg. Die Sonne stand sehr niedrig, und die Straßen lagen größtenteils im Dämmerlicht. Doch jeder Kilometer Straße wirkte enger. Vorgefertigte Bauten wichen Würfeln, die vielleicht Frachtcontainer gewesen waren. Sammy schaute finster hinab. Die Ersten Siedler hatten Jahrhunderte lang gearbeitet, um eine schöne Welt zu erschaffen; jetzt war sie dabei, ihnen unter der Hand zu explodieren. Es war ein geläufiges Problem bei terraformten Welten. Es gab mindestens fünf ziemlich schmerzlose Methoden, den endgültigen Erfolg des Terraformungsprozesses einzupegeln. Doch wenn die Ersten Siedler und ihre ›Forstverwaltung‹ nicht bereit waren, eine davon anzuwenden… nun ja, dann würde es vielleicht keine Zivilisation geben, die ihre Flotte bei der Rückkehr willkommen hieße. In nächster Zeit müsste er sich einmal zwanglos und offenherzig mit Vertretern der herrschenden Klasse unterhalten.
Seine Gedanken wurden in die Gegenwart zurückgeholt, als der Flieger zwischen kastenförmigen Bauwerken aufsetzte. Sammy und seine Gorillas von der Forstverwaltung gingen durch halb gefrorenen Modder. Haufen von Kleidung — Spenden? — lagen kunterbunt durcheinander in Kisten auf den Stufen des Gebäudes, dem sie sich näherten. Die Gorillas machten einen Bogen darum. Dann waren sie die Treppe hinaufgegangen und im Gebäude.
Der Leiter des Friedhauses nannte sich Bruder Song, und er wirkte auf den Tod alt. »Bidwel Ducanh?« Sein Blick glitt nervös von Sammy weg. Bruder Song erkannte Sammys Gesicht nicht, aber er kannte die Forstverwaltung. »Bidwel Ducanh ist vor zehn Jahren gestorben.«
Er log. Er log.
Sammy holte tief Luft und schaute sich in dem schmuddeligen Zimmer um. Plötzlich fühlte er sich so gefährlich, wie ihn manchmal ein Schleimscheißer von der Flotte hinstellte. Gott verzeih mir, aber ich werde alles tun, um die Wahrheit aus diesem Mann herauszukriegen. Er schaute wieder Bruder Song an und versuchte, freundlich zu lächeln. Es schien nicht recht zu klappen; der Alte trat einen Schritt zurück. »Ein Friedhaus ist ein Ort, wo Menschen sterben können, ist dem so, Bruder Song?«
»Es ist ein Ort, wo alle bis zu ihrem natürlichen Ende leben können. Wir verwenden alles Geld, das wir erhalten, um all den Menschen zu helfen, die zu uns kommen.« In der perversen Situation von Triland hatte Bruder Songs Primitivismus auf schreckliche Art seinen Sinn. Er half den Kränksten der Ärmsten, so gut er es vermochte.
Sammy hob die Hand. »Ich werde jedem Friedhaus Ihres Ordens das Hundertfache seines Jahresbudgets spenden… wenn Sie mich zu Bidwel Ducanh führen.«
»Ich…« Bruder Song trat einen weiteren Schritt zurück und setzte sich schwer. Irgendwie wusste er, dass Sammy sein Angebot einlösen konnte. Doch dann schaute der alte Mann zu Sammy auf, und in seinem Blick lag verzweifelte Halsstarrigkeit. »Nein. Bidwel Ducanh ist vor zehn Jahren gestorben.«
Sammy ging durchs Zimmer und packte die Armlehnen am Stuhl des Alten. Er brachte sein Gesicht ganz nahe an das des anderen. »Sie kennen die Leute, die ich mitgebracht habe. Zweifeln Sie daran, dass sie auf meine Anweisung hin Ihr Friedhaus Stück für Stück auseinandernehmen werden? Zweifeln Sie, dass wir, wenn wir hier nicht finden, was ich suche, dasselbe mit jedem Friedhaus Ihres Ordens machen werden, überall auf der Welt?«
Es war klar, dass Bruder Song nicht daran zweifelte. Er kannte die Forstverwaltung. Doch einen Augenblick lang fürchtete Sammy, er würde selbst dem widerstehen. Und dann werde ich tun, was ich muss. Abrupt schien der alte Mann in sich zusammenzusacken und weinte leise.
Sammy trat von seinem Stuhl zurück. Einige Sekunden verstrichen. Der Alte hörte auf zu weinen und stand mühsam auf. Er schaute Sammy nicht an und machte keine Geste, sondern schlurfte einfach aus dem Zimmer.
Sammy und seine Eskorte folgten. Sie gingen einer nach dem anderen einen langen Korridor entlang. Hier begegneten sie dem Grauen. Es war nicht die trübe und defekte Beleuchtung, die wasserfleckigen Deckenplatten oder der schmutzige Fußboden. Den Korridor entlang saßen Menschen auf Sofas oder in Rollstühlen. Sie saßen da und starrten… ins Leere. Zuerst dachte Sammy, sie trügen Datenbrillen und sähen weit abgelegene Dinge, vielleicht irgendwelche Gemeinbilder. Immerhin sprachen ein paar von ihnen, ein paar machten andauernde, komplizierte Gesten. Dann bemerkte er, dass die Zeichen an den Wänden waren. Es gab einfach nichts als das simple, abblätternde Material der Wand. Und die Augen der Menschen waren unbedeckt und leer.
Sammy ging dicht hinter Bruder Song. Der Mönch führte ein Selbstgespräch, doch die Worte hatten Sinn. Er sprach von dem Mann: »Bidwel Ducanh war kein freundlicher Mann. Er war niemand, den man gernhaben konnte, nicht einmal zu Beginn… besonders nicht zu Beginn. Er sagte, er sei reich, doch er brachte uns nichts. Die ersten dreißig Jahre, als ich jung war, arbeitete er härter als wir alle. Keine Arbeit war ihm zu schmutzig, keine zu schwer. Doch er redete schlecht über jeden. Er machte sich über jeden lustig. Er konnte bei einem Patienten dessen letzte Nacht hindurch wachen und danach abfällig über ihn reden.« Bruder Song sprach in der Vergangenheit, doch nach ein paar Sekunden begriff Sammy, dass er nicht versuchte, ihn von irgendetwas zu überzeugen. Song führte nicht einmal ein Selbstgespräch. Es war, als spräche er einen Nekrolog für jemanden, von dem er wusste, dass er sehr bald tot sein würde. »Und dann, als die Jahre vergingen, konnte er sich wie wir alle immer weniger nützlich machen. Er sprach von seinen Feinden, wie sie ihn töten würden, wenn sie ihn jemals fänden. Er lachte, wenn wir versprachen, ihn zu verstecken. Schließlich blieb nur seine Gemeinheit übrig — und die ohne Worte.«
Bruder Song blieb vor einer großen Tür stehen. Das Zeichen darüber war kräftig und verziert: ZUM SONNENZIMMER.
»Ducanh ist der, der den Sonnenuntergang beobachtet.« Doch der Mönch öffnete die Tür nicht. Er stand mit gesenktem Kopf da, ohne direkt den Weg zu versperren.
Sammy ging um ihn herum, blieb stehen und sagte: »Die Bezahlung, die ich erwähnt habe: Sie wird auf das Konto Ihres Ordens eingezahlt.« Der Alte schaute nicht zu ihm auf. Er spuckte Sammy auf die Jacke und ging dann den Korridor zurück, drängte sich an den Gendarmen vorbei.
Sammy drehte und zog an der mechanischen Türklinke.
»Mein Herr?« Es war der Kommissar der Stadtsicherheit. Der Spitzenbürokrat trat nahe heran und sagte leise: »Ähm… Wir wollten diesen Auftrag zu der Eskorte nicht, mein Herr. Das hätten Ihre eigenen Leute machen sollen.«
Hä? »Dem stimme ich zu, Kommissar. Warum also durfte ich sie nicht mitbringen?«
»Das war nicht meine Entscheidung. Ich glaube, man hielt die Gendarmen für weniger auffällig.« Der Bulle schaute weg. »Sehen Sie, Flottenkapitän. Wir wissen, dass ihr von der Dschöng Ho sehr lange nachtragend seid.«
Sammy nickte, obwohl das eher Kundenzivilisationen als einzelne Menschen betraf.
Der Bulle schaute ihm endlich in die Augen. »Schön. Wir haben kooperiert. Wir haben dafür gesorgt, dass nichts von Ihrer Suche zu Ihrem… Ziel durchsickerte. Aber wir werden diesen Kerl nicht für Sie erledigen. Wir werden wegschauen, wir werden Sie nicht hindern. Aber wir erledigen ihn nicht.«
»Ah.« Sammy versuchte sich vorzustellen, wo im Pantheon der Moral dieser Typ hinpassen würde. »Gut, Kommissar, es ist weiter nichts nötig, als dass Sie mir nicht in die Quere kommen. Ich kann mich selbst darum kümmern.«