Techi stand schon in der Tür und lächelte mich an. Es war ein spezielles Lächeln, das mir Mut machen sollte, die Reise durch das Tor zwischen den Welten anzutreten.
»Einen schönen Abend noch, Ladys«, wünschte Juffin und verbeugte sich galant vor den beiden. »Und bleiben Sie besser nicht bis Sonnenaufgang, damit wir Sie nicht erneut beim Filmschauen stören.«
Techi sah mich etwas verärgert an und verschwand mit ihrer Freundin ins Erdgeschoss.
»Erstaunlich, dass die beiden sich so eng befreundet haben-, meinte ich kopfschüttelnd. »Immerhin stammen sie aus Familien, die seit langem miteinander verfeindet sind ...«
»Ich finde das ganz und gar nicht erstaunlich. Melamori wäre gern nicht nur mit der Tochter von Lojso Pondochwa, sondern auch mit ihm selbst befreundet. Aber leider ist der Vater von Lady Techi schon tot. Um ihrem eigenen Vater Korwa zu trotzen, tut Melamori alles, denn sie ist mit ihm in einen dauernden Wettbewerb verstrickt, bei dem es darum geht, wer wem die schlimmeren Wunden schlägt. Ich fürchte, Lady Melamori hat einen soliden Vorsprung.«
»Tja, das alles hat damit begonnen, dass Korwa sich einen Sohn gewünscht und eine Tochter bekommen hat«, sagte ich.
»Da wir gerade beim Thema Frauen sind: Ist dir schon aufgefallen, dass ihr euch sehr ähnlich seid, du und deine Freundin? Natürlich nicht im Gesicht, aber hinsichtlich eurer Worte und Gesten.«
»Das ist mir gleich aufgefallen«, bestätigte ich nickend. »Wie jeder selbstverliebte Mensch habe ich gedacht, das sei ideal, und sehe das eigentlich auch heute noch so.«
»Sie ist dein Spiegel«, erklärte Juffin. »Wie die übrigen Kinder Lojso Pondochwas wirft auch Lady Techi das Bild ihres Begleiters zurück. Niemand freilich hat das so perfekt gekonnt wie ihr großartiger Vater, der es meisterhaft verstand, von einer Rolle in die andere zu schlüpfen. Nur wenn deine Freundin erschrocken, betrübt oder allein ist,
kommt die echte Techi zum Vorschein. Und das passiert bekanntlich selten. Als du auf der langen Reise in deine Heimat warst, habe ich sie oft in ihrem Wirtshaus besucht, und wir haben uns gut über die verschiedensten Dinge unterhalten. Da Techi inzwischen viel Zeit mit Melamori verbringt, wird sie nun ihr immer ähnlicher. Ein lebendes Spiegelbild zu haben, ist schmeichelhaft, was?«
»Allerdings«, sagte ich und nickte verlegen. »Denken Sie wirklich, Techi habe die Neigung, zu jedermanns Spiegelbild zu werden? Ich wäre nie darauf gekommen.«
»Und doch ist es so.«
»Ich dachte, sie würde allein mir ähneln«, meinte ich betrübt. »Und wie sich jetzt herausstellt, weiß ich gar nicht, wer sie wirklich ist.«
»Natürlich weißt du einiges von ihr. Als Lady Scheck dich versehentlich beinahe vergiftet hätte, hattest du mit Techis wahrem Selbst zu tun, denn da war sie erschrocken. Soweit ich mich erinnere, fandest du sie damals bezaubernd«, sagte Juffin und lächelte freundlich. »Seither ähnelt deine Freundin dir wirklich sehr, wenn du mit ihr zusammen bist. Das ist keine billige Schauspielerei, sondern Magie, mein Freund. Und was geht dich ihr Verhalten an, wenn sie nicht bei dir ist?«
»Nichts«, räumte ich finster ein »Eigentlich kennt man niemanden wirklich, auch nicht sich selbst. Warum sollte Techi eine Ausnahme sein?«, fuhr Juffin fort.
»Auch da haben Sie Recht. Und warum unterhalten Sie sich ausgerechnet jetzt über dieses Thema?«
»Einmal muss man darüber reden. Es gibt viele einfache Dinge, auf die man von allein erst tausend Jahre zu spät kommt. Und da wir uns zufällig darüber unterhalten haben ...«
»In letzter Zeit verliere ich oft den Boden unter den Füßen. Das ist wie ein kleiner Tod. Wenn der Boden aber wieder da ist, stelle ich fest, dass die Welt schöner geworden ist.«
»Das hast du sehr hübsch gesagt«, meinte Juffin erfreut. »Und jetzt lass uns wieder an die Arbeit gehen. Wir haben die Ladys schließlich nicht vertrieben, um hier die ganze Zeit zu plaudern. Als wäre dein ehemaliges Schlafzimmer der einzige Ort im Vereinigten Königreich, an dem man sich über alles problemlos unterhalten kann.«
»Manchmal habe ich allerdings wirklich den Eindruck, dass man nirgendwo so gut miteinander reden kann wie in diesen vier Wänden«, wandte ich lächelnd ein. »Und was machen wir nun?«
»Du legst dich in deine Lieblingsecke und schläfst ein, wie du es immer tust, wenn du das Tor zwischen den Welten durchquerst. Es ist zwar ziemlich früh, und du bist noch nicht müde, aber ich helfe dir. Und wenn du im Tor bist, öffne einfach die Tür zu dem Strand, von dem du mit Schürf geträumt hast. Ich folge dir. Hab keine Angst - ich bin ein erfahrener Reisender und nicht auf deine Hilfe angewiesen. Jetzt leg dich endlich hin. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Ich legte mich ins weiche Bett und betrachtete den Fernseher, den DVD-Player und meine Filme, deren Anblick so beruhigend auf mich wirkte wie die Gegenwart von Sir Juffin. Nun war ich wirklich zu allem bereit.
»Das hier ist die beste Methode gegen Schlaflosigkeit«, sagte mein Chef und zog einen Vorschlaghammer aus dem Mantel. »Leiste aber keinen Widerstand - sonst funktioniert es nicht.«
Ich war baff und wusste nichts zu antworten. Schließlich passierte mir so etwas nicht jeden Tag. Der schreiend rosa lackierte Hammer näherte sich langsam meinem Kopf.
Natürlich spürte ich keinen Schlag, aber auch sonst nichts. Nur mein Schlafbedürfnis war überwältigend. Mit Narkose hatte das nichts zu tun, eher mit völliger Erschöpfung - als hätte ich seit Tagen kein Auge zugetan. Ich glaubte noch kurz, mich von diesem Bedürfnis befreien zu können, erkannte aber sofort, dass es sich dabei um eine Illusion handelte.
Dann schlief ich ein. Was blieb mir auch übrig, nachdem Sir Juffin mir persönlich ein Wiegenlied gesungen hatte?
Erneut landete ich an einem Ort, an dem es nichts gab, nicht einmal mich selbst. Es ist schwer zu erklären, was das Tor zwischen den Welten ist. Auch persönliche Erfahrungen helfen da nicht viel, im Gegenteiclass="underline" Je öfter man dort landet, desto deutlicher wird einem, dass es keine Worte gibt, um von diesem Ort zu erzählen.
Auch diesmal staunte ich, wie gut sich ein Teil von mir in diesem metaphysischen Raum orientierte. Wieder wusste dieser Teil, wohin ich mich wenden musste, um feinen weißen Strand unter meine Schuhe aus Uguland zu bekommen.
Ich setzte mich auf einen warmen, rotgrauen Stein und sah mich um.
Etwas stimmte nicht mit dieser so fremden, mir aber dennoch bekannten Welt. Außer mir befanden sich dort nämlich noch andere Menschen. Sie waren zwar weit entfernt am Ufer, aber ich konnte sie trotzdem erkennen. Dabei war diese Welt bisher menschenleer gewesen. Das war womöglich eine ihrer wichtigsten, unverwechselbaren Eigenschaften gewesen. Genauso ist es bei einem geliebten Menschen: Seine Gesichtszüge, seine Stimme, seine Ausdrucksweise oder seine Reaktionen - all das macht ihn einzigartig und dadurch geliebt. Wenn sich nur eine dieser Eigenschaften ändert, ist die Harmonie gestört, und wir haben es nicht mehr mit dem alten Freund zu tun, sondern mit einem Unbekannten, den wir nur ungern in unser Leben lassen.
In letzter Zeit hatte ich solche Veränderungen immer wieder hinnehmen müssen. Den Kampf, die Dinge um mich herum zu erhalten, wie sie waren, hatte ich längst aufgegeben, weil er meine Kräfte überstieg. Ja, ich redete mir obendrein ein, die ständigen Veränderungen würden mir gefallen, und allmählich glaubte ich sogar daran.
Aber die Veränderungen, die an dem von mir so geliebten Strand passierten, erschreckten mich zutiefst. Zuerst lehnte ich nur intuitiv ab, was dort geschah, dann aber bekam ich seltsame Ahnungen.
Ich erhob mich von meinem warmen Stein, ohne zu bedenken, dass ich eigentlich auf Juffin hätte warten sollen, und ging zu den Badenden. Diese Leute gehörten einfach nicht hierher!
Eine nicht eben große, aber bunt gemischte Menschengruppe kam mir entgegen. Ich sah Frauen mittleren Alters in farbigen Röcken und golden schimmernden Kopftüchern. Eine hielt ein Kleinkind auf dem Arm. Schon aus der Ferne begannen sie zu jammern. Natürlich brauchten sie Geld, und zwar - wie sie behaupteten - für ihre Kinder. Eine Frau wollte mich ködern, indem sie mir anbot, aus meiner Hand zu lesen.