Erstaunt beobachtete ich, wie all die fast durchsichtigen Schemen sich einen Kristallsplitter nahmen.
»Leute, erinnert euch bitte an eure Biografie. Das wird euch im Tor zwischen den Welten helfen. Ich öffne jetzt die Tür dorthin«, sagte Juffin und zeichnete ein großes Rechteck in die Luft.
Siebzehn durchsichtige Gespenster gingen nacheinander auf Juffin zu und verschwanden binnen einer Minute durch die unsichtbare Tür. Mein Chef setzte sich neben Gugimagon in den Sand. Dem Alten ging es inzwischen sehr schlecht, aber Juffin kümmerte sich nicht darum, sondern wandte sich zu mir, lächelte freundlich und sagte: »Vor vielen, vielen Jahren, als ich fast noch ein Junge war, ist mir das Gleiche widerfahren wie den siebzehn armen Gespenstern. Ein schrecklicher Kerl wie der hier«, fuhr er fort und wies auf Gugimagon, »hatte sich meiner Seele bemächtigt, genauer gesagt - und zum Glück! - nur eines Teils davon. Natürlich verstand ich damals nicht, was mit mir los war. Ich blieb ein unauffälliger Mensch, und niemand wäre auf die Idee gekommen, mich ins Irrenhaus zu sperren, doch etwas fehlte mir. Aber was? Ich war sehr jung und wusste nicht, ob mein Verlustgefühl nur eine jugendliche Grille war oder auf einen tatsächlichen Mangel hindeutete. Allmählich aber vermutete ich, die Leere in mir sei ganz normal, und jeder empfinde das Leben als dumm und freudlos. Nichts interessierte mich wirklich, und mein Dasein war eine Abfolge inhaltsleerer Tage, die einander auf öde Weise glichen. Mein Schlaf war traumlos, und immer spürte ich unendliche Müdigkeit. Ich trieb mich herum, begegnete aber immer nur meinem Ebenbild, das mir aus vielen Spiegeln traurig entgegenkam. Das ist eine Metapher, Max, denn es gibt keine Worte, meinen damaligen Zustand auszudrücken. Am schlimmsten war das dumpfe, aber unfassbar schmerzende Wissen, mein Leben könnte ganz anders aussehen. Dann bot mir der alte Machi Ainti eine Stelle als sein Hilfssheriff an. Heute weiß ich, dass er erst zum Tor zwischen den Welten gereist war, um den verlorengegangenen Teil meiner Seele zurückzuerobern und mich dadurch aus der Gefangenschaft zu befreien. Seitdem weiß ich, wie das echte Leben riecht.«
Juffin legte sich auf den Rücken, streckte die Beine aus,
verschränkte die Hände hinterm Kopf, seufzte ein wenig und fuhr fort: »Damals schob ich Wache im Haus am Weg und saß gerade meine zweite oder dritte Nachtschicht ab. Ich war am Schreibtisch eingeschlafen, schrak aber plötzlich hoch, als eine Böe das Fenster aufstieß. Plötzlich bemerkte ich die Schönheit des Regens und den Duft des Schotbaums, dessen herrlicher Geruch der Pracht eines lilafarbenen Sonnenaufgangs gleicht. Ich spazierte durch die Stadt, überquerte alle Brücken - und du weißt, Max, wie viele es davon in Kettari gibt -, kehrte in einem Wirtshaus ein und staunte darüber, wie intensiv ich alles wahrnahm. Ich betastete die Dinge, um mich von ihrer Echtheit zu überzeugen und mich so meiner Existenz zu versichern. In dieser Nacht wurde auch ich endlich echt und wäre beinahe verrückt geworden - so sehr bestürmten mich die Eindrücke von allen Seiten. Bis heute begeistert mich das Dasein, und ich erfreue mich an jedem Zeichen des Lebens, denn zu genau erinnere ich mich der Zeit, da ich nicht wirklich lebte und noch nicht alles spürte. Dann sammelte ich mich und ging wieder zum Dienst, und Machi beschimpfte mich drei Stunden lang, weil ich meinen Arbeitsplatz drei Stunden unentschuldigt verlassen hatte. Heute weiß ich, dass er mich vor mir selbst geschützt hat, aber ich bin mir nicht sicher, ob er das effektivste Mittel dafür wählte.«
Juffin lächelte so verträumt, als sei die Standpauke, die ihm der Sheriff von Kettari gehalten hatte, das angenehmste Ereignis seines Lebens gewesen, und vielleicht war es ja so.
»Und jetzt haben Sie Ihre Schuld beglichen?«, fragte ich.
»Das hast du gut erkannt«, meinte Juffin erfreut. »Besser lässt es sich nicht sagen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dass diese armen Menschen wieder eine intakte Seele haben. Vielleicht wird manch einer von ihnen sogar verrückt, weil er das Leben wieder intensiv wahrnimmt.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte ich wehmütig. »Auch ich hatte mich auf der Spur des Doperst verloren und musste mich mühsam und Schritt für Schritt wiederfinden.«
»Ja«, sagte Juffin nickend, »die Geschichten darüber, wie man zu sich zurückfindet, unterscheiden sich nur im Detail. Doch du weißt, wovon ich rede«, setzte er hinzu, wandte sich an Gugimagon und legte ihm die Hand auf den Kopf. »Hoffentlich hast du unserem Gespräch aufmerksam zugehört. Diese Geschichte hätte ich meinem Kollegen auch später erzählen können, aber jetzt weißt du, was du anderen angetan hast.«
Gugimagon reagierte nicht auf die Worte meines Chefs. Ich wusste nicht einmal, ob er sie gehört hatte. Juffin schüttelte den Kopf und wandte sich an mich. »Schön, dieses Abenteuer geht nun zu Ende, und wir reisen zurück nach Hause.«
»Dazu müssen Sie mich aber aus diesem Grab befreien.«
»Mach die Augen zu und entspann dich. Das erleichtert es mir, die Tür zu öffnen, und schont deine Nerven.«
Ich tat, wie mir geheißen, doch trotz der geschlossenen Lider sah ich ein Rechteck. Bestimmt öffnete Juffin gerade die Tür zum Tor zwischen den Welten.
Ich landete in der kühlen Leere des Tores zwischen den Welten. Kurz darauf aber sah ich einen leuchtenden Punkt.
Das musste die Tür sein, die in mein Schlafzimmer in der Straße der alten Münzen führte.
»Max, versuch bitte, ein wenig länger hierzubleiben.«
Diese Worte kamen zweifellos von Sir Juffin, der mich per Stummer Rede angesprochen hatte. Ich staunte nicht schlecht, denn ich wusste, dass diese Art der Verständigung im Tor zwischen den Welten eigentlich nicht funktioniert. Ich wollte antworten, doch es klappte nicht.
»Du brauchst nicht zu antworten. Außerdem weißt du gar nicht, wie das geht«, beruhigte mich mein Chef. »Bleib so lange hier, bis du mich sehen kannst. Sollte dir das nicht gelingen, ist es auch nicht schlimm. Ich möchte nur nicht, dass du mitbekommst, wie man im Tor zwischen den Welten stirbt. Das zeige ich dir ein andermal.«
Ich wusste nicht, wie ich meinen Aufenthalt im Tor verlängern sollte. Die Tür nach Echo öffnete sich schon, um mich in mein Schlafzimmer zu entlassen, denn die Welten erlauben es den Reisenden eigentlich nicht, im Tor zwischen ihnen zu verweilen.
»Darf ich hier auf Juffin warten?«, fragte ich laut.
Noch nie hatte ich im Tor zwischen den Welten etwas gesagt und staunte darüber, wie meine Stimme hier klang und wie lange das Echo nachhallte. Doch ich war seltsam überzeugt, dieses Selbstgespräch sei der einzige Weg, meinen Aufenthalt in der Weltenschleuse zu verlängern. Dann sammelte ich meine Kräfte und fügte hinzu: »Ich muss hierbleiben. Unbedingt.«
Erstaunlicherweise funktionierte das. Die Tür nach Echo blieb sichtbar, verlor aber ihre Anziehungskraft.
»Danke«, sagte ich, denn sicher ist sicher. Außerdem soll man immer höflich bleiben.
Dann erblickte ich Juffin. Er war neben mir, obwohl Worte wie links, rechts, oben, unten, nah oder fern im Tor zwischen den Welten keinerlei Bedeutung haben. Ich hatte das Gefühl, ihn berühren zu können, wenn ich nur die Hand ausstreckte, spürte aber meinen Körper nicht. Also blieb mir nichts anderes übrig als ihn anzusehen.
Juffin erschien mir riesig und eigenartig leuchtend, und je länger ich ihn ansah, desto riesiger wurde er. In seiner Nähe glitzerte ein kleines, seltsam konturloses Klümpchen, bei dem es sich um Gugimagon, den hiesigen Freddy Krueger, handeln musste. Ich wusste, dass er tot war, denn nur ein Toter konnte im Tor zwischen den Welten so klein wirken wie er.
Dann nahm Juffin das Klümpchen in die Hand und schüttelte es. Als er die Faust wieder öffnete, sah ich viele winzige Teile in alle Richtungen davonfliegen. Obwohl sie binnen Sekunden verschwunden waren, wusste ich, dass sie im Tor zwischen den Welten weiterleben würden.