»Kurusch würde sagen, die Angst vor dem Unbekannten sei für den Menschen typisch, und damit hätte er sicher Recht«, seufzte ich. »Diese Angst ist vielleicht das wichtigste Charakteristikum unserer Gattung.«
»Trotzdem sitze ich neben jemandem, der mutig genug war, die Welten zu wechseln«, sagte Melamori und rückte näher, als könnte ich das Heilmittel all ihrer Probleme sein. »Es kann also keine Rede davon sein, dass Angst für alle Menschen typisch ist. Und in meinem Fall handelt es sich bloß um eine Reise auf einen anderen Kontinent.«
»Das alles ist vermutlich viel einfacher, als du denkst«, sagte ich und versuchte, entschieden zu wirken. »Wenn du mit Alotho nach Arwaroch gehen willst, dann tust du das - und wenn nicht, dann bleibst du. Ist das nicht die Frage, um die es eigentlich geht?«
»Ach, Max, du bist lustig«, sagte Melamori und lächelte plötzlich. »Warum redest du bloß ständig von Alotho?«
Ich sah sie erstaunt an. »Immerhin hattest du eine Affäre mit ihm, die deine Familie und einige Mitarbeiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps erschüttert hat.«
»Es ist unwichtig, was ich mit ihm hatte, und in Zukunft wird ohnehin nicht viel zwischen uns passieren«, sagte sie und winkte ungeduldig ab. »Alotho ist ein seltsamer Kerl. Er hat mir den Kopf verdreht, und alles, was du gesagt hast, stimmt. Aber das war nur Leidenschaft, Max, und wir wissen doch, dass Leidenschaft allein nicht reicht. Du denkst doch wohl nicht, dass ich mich seinetwegen die ganze Zeit so quäle?«
»Verzeih«, sagte ich schuldbewusst, »aber bisher habe ich das tatsächlich gedacht. Dumm von mir, was?«
»Nicht unbedingt dumm - eher romantisch.«
Überrascht bemerkte ich, dass sich Melamoris Stimmung deutlich gebessert hatte.
»Ich wünschte, du hättest Recht«, fuhr sie fort. »Ich wünschte, es wäre die große Liebe mit gebrochenen Herzen und Happy-End. Tatsächlich aber habe ich ein ganz anderes Problem, dessen Tragweite ich erst erkannte, als ich mich weigerte, nach Arwaroch zu gehen. Zuerst hatte ich den Eindruck, vor mir läge eine wunderbare, romantische Reise, wie sie meinem Geschmack entspricht. Ich freute mich riesig und hätte beinahe zugesagt, schrak dann aber davor zurück und konnte nicht schlafen und kaum mehr atmen. Schon als ich zum ersten Mal in deinen seltsamen Träumen erschien, hätte ich mich eigentlich fragen sollen, wovor ich mich so sehr ängstigte. Aber damals hatte ich noch nicht gelernt, über die Konsequenzen meines Handelns nachzudenken.«
Sie trank ihr Glas leer, stellte es auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Ihre Stimme klang nun so tief, als wäre meine Freundin in einer Höhle gefangen. Die wirkliche Melamori schien ein unbekanntes Wesen zu sein, mit dem ich bisher kaum zu tun gehabt hatte.
»Zweifellos regieren mich meine Ängste, und ich hänge am gewohnten Gang der Dinge. Daran stirbt man nicht. Menschen wie ich leben lange und glücklich, gründen Familien und ziehen Kinder groß, die am Ende genauso ängstliche Gewohnheitstiere sind wie sie. Und auch ich bin glücklich und durchaus zufrieden mit mir. Aber im Hinterkopf verspüre ich stets eine gewisse Verachtung mir selbst gegenüber. Meine Mutter hat oft gesagt, eine Lady aus guter Familie solle auch wie eine Lady aus guter Familie leben. Sie soll ein gutes Leben haben, Max, verstehst du? Und ich habe kein gutes Leben!«
Eigentlich hätte sie schon längst schluchzen müssen, aber sie schaute vor sich hin, und ihre Augen waren trocken.
»Hast du dich entschieden, all das mit mir zu besprechen, weil ich ein großer Fachmann bin, wenn es darum geht, sein Leben zu ändern?«, fragte ich. »Einerseits sprichst du mit dem Richtigen, andererseits aber hätte ich nie gedacht, du würdest überlegen, Echo zu verlassen. Bei der Vorstellung, ich könnte eines Tages ins Haus an der Brücke kommen, und du bist nicht mehr da, fühle ich mich gar nicht wohl.«
»Das wird nie geschehen«, sagte Melamori mit bitterem Lächeln. »Da kann ich dich beruhigen.«
»Viel Größeres kann geschehen, wenn man sich entscheidet, sein Leben zu ändern«, wandte ich ein. »Weißt du, mit achtzehn begriff ich, nicht mehr bei meinen Eltern wohnen zu wollen, doch es dauerte anderthalb Jahre, bis ich mich entschied, auszuziehen, denn ich bin ein Gewohnheitsmensch wie du. Ich war fest davon überzeugt, ich würde es allein nicht schaffen, sondern untergehen, doch ich lebe noch, wie du siehst. Das war eine schwere Zeit für mich. Bis heute denke ich, es war die heldenhafteste Tat meines Lebens. Alle anderen Entscheidungen habe ich seltsam träge getroffen. Weißt du, es gibt zwei Dinge, die dir in so einer Lage wirklich helfen können.«
»Welche denn?«, fragte Melamori gebannt. Mein Freimut erstaunte sie offenbar.
»Erstens hilft Eigensinn. Egal, was du tust: Du tust es aus Trotz. Und du bist viel eigensinniger als ich - da bin ich mir sicher.«
»Kann sein«, rief Melamori erfreut. »Und zweitens?«
»Zweitens kommt es auf das Schicksal an«, sagte ich achselzuckend. »Das klingt etwas hochtrabend, ich weiß, aber wenn das Schicksal gewisse Pläne mit uns hat, findet es Mittel und Wege, uns nach diesen Plänen handeln zu lassen. Wenn es für dich wirklich gut wäre, nach Arwaroch zu segeln, dann hätte das Schicksal dir schon tausendmal die Möglichkeit gegeben, das zu tun. Und das Schicksal hat auch die wunderbare Macht, Wolken anzuziehen, wenn wir gegen unsere Bestimmung handeln. Du hast dich ein einziges Mal geweigert, deiner Bestimmung gemäß zu handeln, und gleich wurde dein Leben weniger angenehm. Daran sieht man, dass das Schicksal auf sehr eindringliche Weise Überzeugungsarbeit leisten kann. Und in den seltenen Fällen, in denen das misslingt, tötet es die Unfolgsamen. In meiner Heimat sagt man, das Schicksal leite den, der es bejaht, und zerre den, der sich ihm widersetzt. So ist es wirklich. Das Schicksal zerrt die Dummen, denen der Atem stockt, weil sie vor ihrer einzigen Chance Angst haben.«
»Max! Sündige Magister, was ist los mit dir?«, fragte Melamori und schien mich zum ersten Mal zu sehen. »Ich hätte nie gedacht, dass du dich so ausdrücken kannst.«
»Ich kann so einiges. Und das ist kein Wunder, Lady, denn immerhin war ich früher auch Dichter - nicht der beste zwar, aber mitunter meldet sich mein Talent wie ein nervöser Tick.«
»Du warst sicher ein sehr guter Dichter«, sagte Melamori lächelnd. »Deine flammende Rede über das Schicksal war großartig. Du hast mich beruhigt und doch aufgestachelt - das war genau richtig.«
»Habe ich das wirklich getan?«, fragte ich erstaunt. »Na ja, du wirst das besser wissen als ich.«
»Wir müssen gehen«, sagte Melamori und stand entschieden auf. »Schürf kommt bald ins Armstrong und Ella. Und überhaupt - das Leben geht weiter.«
»Natürlich geht es weiter«, pflichtete ich ihr bei und erhob mich. »Aber eines hast du noch vergessen. Einmal habe ich dich als Lady Marilyn besucht.«
»Daran erinnere ich mich gut«, sagte Melamori lächelnd. »Du warst ein tolles Mädchen und hast sogar Melifaro den Kopf verdreht. Erst nachdem du ihm deine wahre Identität verraten hattest, mochte er glauben, dass Lady Marilyn eine Kunstfigur war. Das ist meine liebste Geschichte über dich.«
»Freut mich, dass ich diesen bescheidenen Ruhm bei dir genieße«, antwortete ich. »Aber eigentlich wollte ich über etwas anderes sprechen. Du hast doch sicher noch Wein aus dem Vorrat deines Großvaters. Er heißt Schicksalstropfen oder so ähnlich, und als wir ihn zusammen tranken, erschienen über uns romantische kleine Funken. Damals sagtest du, das sei ein gutes Zeichen, denn diese Funken erscheinen nur, wenn ihn zwei Menschen trinken, die sich gut verstehen. Und wie es aussieht, verstehen wir beide uns wunderbar, und es gibt keinen Anlass, Trübsal zu blasen. Die Erinnerung an dieses Ereignis hat mich in schweren Stunden stets aufgeheitert.«