Während Skalduar den Toten untersuchte, nahm ich mir seine Kleidung vor - und seht mal, was für einen Schatz ich gefunden habe«, sagte Kofa, zog einen verschlissenen Lochimantel hervor und legte ihn sich um, doch nichts geschah.
»Gut, Jungs, hier am Tisch funktioniert der Trick nicht, aber ich werde jetzt tun, als wollte ich gehen, und ihr schaut mir dabei zu.«
Das taten wir gern. Ich beobachtete seinen Rücken, merkte aber plötzlich, dass mir etwas ins Auge geraten war, und konnte mich nicht mehr auf Kofa konzentrieren.
»Max, ich glaube, ich spinne. Wo ist er? Siehst du ihn?«, fragte Melifaro verwirrt.
»Nein, ich sehe ihn auch nicht.«
Es stellte sich heraus, dass Kofa die ganze Zeit neben unserem Tisch stehen geblieben war.
»So einen Schatz hab ich gefunden«, rief er begeistert. »Er ist genau das, was ich für meine Arbeit dringend brauche, und viel bequemer, als ständig das Gesicht zu verändern. Gegenstände wie diesen nennt man Einfache Zauberdinge, wie ich vom klugen Vogel Kurusch erfahren habe. Dieser Mantel wurde weit von Uguland entfernt als Talisman hergestellt, doch erst in unserer Hauptstadt entfaltet er seine Wirkung. Wenn man ihn sich umlegt, wird man unsichtbar, und alle Magieanzeiger schweigen - ein famoses Kleidungsstück ist das.«
»Stimmt«, meinte Melifaro und befühlte das verschossene Gewebe. »Die Bettler am Hafen dürften dich darum beneiden.«
»Gut, Jungs, nun müssen wir nur noch den Koffer finden. Und denkt daran: Laut Zeugenaussagen haben ihn zwei Männer gestohlen.«
«Jetzt könnt ihr euch vielleicht auch meine Geschichte anhören«, begann ich schüchtern. »Sie ist jedenfalls kürzer.«
Ich erzählte von meinem seltsamen Gespräch mit Kapitän Gjata und hatte das Gefühl, es liege schon Monate zurück. Offenbar war mein Zeitgefühl durcheinandergeraten.
»Max, ich kann es nicht fassen - du bist wirklich ein Glückspilz!«, rief Sir Kofa zu meiner größten Überraschung. »Ich war heute Vormittag nicht faul und habe mein Wissen hinsichtlich der magischen Praktiken am Ukumbrischen Meer vertieft. Übrigens«, fuhr Sir Kofa fort und wandte sich an Melifaro, »wird mich dein Vater bestimmt verfluchen, denn ich habe ihn heute Morgen dreimal per Stummer Rede belästigt.«
»Aber nein«, sagte der Sohn des großen Enzyklopädisten strahlend. »Mein Vater plaudert gern - am liebsten über Themen, bei denen er sein profundes Wissen ausbreiten kann.«
»Das verstehe ich gut«, sagte Sir Kofa. »Aber zurück zu den Ukumbrischen Piraten. Als Talismane schätzt man dort vor allem Dinge, die ihrem Besitzer besondere Überzeugungskraft verleihen. Oft passiert es, dass diese Gegenstände erst in Echo ihre eigentümliche Kraft entfalten.«
»Willst du damit sagen, mein geheimnisvoller Kapitän habe so einen Talisman besessen?«, fragte Melifaro finster.
»Lasst uns zum Hafen gehen«, schlug ich vor. »Wir müssen uns die Tobindona anschauen - je schneller, desto besser!«
Melifaro sprang sofort auf.
»Wartet noch kurz«, sagte Sir Kofa. »Wir sollten vorher noch etwas klären. Offenbar sehen wir den zweiten Dieb nicht, der auch so einen Lochimantel besitzt. Übrigens ist dieses Kleidungsstück der beste Schutz gegen die flammenden Reden, die der Kapitän im Hafen schwingt.«
Ich musste an ein Abenteuer des Odysseus denken. Um den süßen Gesang der Sirenen zwar zu hören, ihm aber nicht zu verfallen, ließ der griechische Held sich an den Mast seines Schiffes fesseln und befahl seinen Männern, sich die Ohren mit Wachs zu verstopfen und die Meerenge, an der die Sirenen arglose Schiffer mit ihrem Gesang betörten, zu durchrudern,• so bewahrte er sich und seine Leute vor dem Untergang, konnte zugleich aber dem verführerischen Gesang der Sirenen lauschen.
»Ich hab's«, rief ich. »Sir Kofa geht zum Hafen und hört sich die Reden des Kapitäns mit verstopften Ohren an, und wir zwei wickeln uns in den Mantel, der uns nicht nur unsichtbar, sondern auch immun gegen seine verführerischen Worte macht.«
»Vielleicht gelingt es dem Kapitän, uns trotz Talisman und Unsichtbarkeit zu verführen«, sagte Melifaro. »Mein Vater würde sich bestimmt freuen, wenn unser braves Familienleben etwas durcheinandergeriete. Aber jetzt lass uns aufbrechen. Die Zeit ist knapp.«
Auf der Fahrt zum Hafen versuchte Sir Kofa, sich aus allen erdenklichen Materialien Ohrenstöpsel zu basteln.
»Schrecklich«, rief er. »Egal, was ich mir in die Ohren stopfe - ich bekomme einfach alles mit.«
»Am besten nimmst du Wachs«, riet ich ihm. »Gibt es hier irgendwo einen Laden, der Kerzen verkauft?«
Ich hielt mich an die klassische Methode. Was gut für Odysseus gewesen war, konnte für Sir Kofa nicht schlecht sein.
»Woher weißt du das alles eigentlich?«, fragte Melifaro erstaunt.
»Ich bin einfach nur sehr klug«, meinte ich bescheiden.
»Um die Ecke ist ein Geschäft, in dem man alle möglichen Haushaltswaren kaufen kann, auch Kerzen«, sagte Kofa.
Ich hielt in der nächsten Seitenstraße, und er stieg aus. Nach wenigen Minuten kam er in bester Laune zurück.
»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief Melifaro. »Max hat ausnahmsweise Recht gehabt.«
»Ich weiß nicht, wovon ihr redet. Ich höre euch nicht«, schrie Kofa wie ein Schwerhöriger.
Zu meiner großen Freude hatte sich meine Belesenheit einmal mehr als vorteilhaft erwiesen.
Der Hafen von Echo war für mich nach wie vor ein Labyrinth, in dem sich nur zurechtfand, wer schon lange darin arbeitete. Darüber hinaus wussten sich auch Orientierungsgenies wie Sir Kofa sicher darin zu bewegen. Kofa aber stieg aus, kaum dass wir das Hafengelände erreicht hatten, warf sich den alten Piratenmantel um die Schultern und wurde unsichtbar, so dass ich seine Gegenwart nur erahnen konnte. Doch zum Glück kannte sich auch Melifaro sehr gut im Hafen aus, und ich beobachtete neidisch, wie sicher er sich durch die Straßen bewegte.
»Wo soll dieses Schiff liegen?«, fragte er mich.
»Am Ende des rechten Anlegers.«
»Warum hast du das nicht früher gesagt? Wir hätten mit dem A-Mobil viel näher heranfahren können. Kofa, du hättest auch mal was sagen können - schließlich kennt Max sich im Hafen nicht aus.«
Bei diesen Worten sah er zum Himmel, als würde er beten.
»Melifaro, jetzt reicht's mir aber. Wir brauchen nur fünf Minuten zu gehen. Bist du wirklich so faul?«, meldete sich Sir Kofa von links.
»Du hörst ja doch etwas!«, rief ich erstaunt, bekam aber keine Antwort.
»Er hat einfach gesehen, wie aufgebracht ich bin«, meinte Melifaro.
Die nächsten Minuten gingen wir zwischen Stapeln von Kisten und mit Teer verschmierten Taurollen hindurch. Ringsum waren verschwitzte, breitschultrige Hafenarbeiter zu sehen. Melifaro amüsierte sich über meine erschrockene Miene und sprang anmutig über die vielen Bretter, die im Weg lagen.
»Keine Angst, Max. Wir sind fast da. Dort vorn liegt die Tobindona«, sagte er generös und wies mit dem Kopf auf das Schiff vor uns.
»Wie schön!«, rief ich.
»So ein Unsinn, Max. Für dich ist offenbar jedes Schiff schön, das sich über Wasser hält«, pflaumte mich Melifaro an. »Das ist ein ganz normaler Seelenverkäufer, von denen viel zu viele über die Meere fahren.«
»Du bist einfach ein Snob!«
»Ich bin kein Snob, sondern Spezialist. Wenn du einen Verwandten wie Sir Antschifa hättest, wärst du das auch.«
»Ich kann mir schon vorstellen, dass dein kleiner Piratenbruder dich mitunter auf sein Schiff eingeladen und kurz ans Steuer gelassen hat, aber das ist sicher über hundert Jahre her. Inzwischen lässt er solche Experimente nicht mehr zu, denn du bedeutest längst eine viel zu große Gefahr für sein Schiff.«