»Sind Sie also nicht überzeugt, all Ihre Erfolge dem Talisman zu schulden?«, fragte ich verblüfft.
»Na ja, als ich jung war, habe ich mir von Sochmas Koffer alles Mögliche versprochen, doch heute sind meine Erwartungen so gering, dass ich den Talisman vor allem aus Sentimentalität an mich genommen habe. Inzwischen aber bin ich sicher, dass die Piraten aus Ukumbrien und die Familie Pu sich wirklich auskennen, was Magie angeht.«
»Haben Sie Ihren Talisman dabei?«, fragte Melifaro.
»Natürlich. Hier oben«, sagte Kao Anloch und zeigte auf sein Piratentuch.
»Nehmen Sie es bitte ab«, sagte Melifaro sanft. »Wir müssen es uns ansehen.«
»Gern«, sagte der Kapitän und tat, wie ihm geheißen. »Bekomme ich es zurück? Es mag dumm klingen, aber ich fürchte, ohne diesen Talisman mein frisch gewonnenes Selbstbewusstsein zu verlieren, und heute Abend laufen wir aus. Aber vielleicht wird aus der Reise nichts, weil Sie mich wegen Diebstahls verhaften. Schließlich habe ich keinen Beweis dafür, dass Sochma Pu uns den Koffer versprochen hat.«
»Warten Sie's ab«, sagte Melifaro und wedelte mit dem Piratentuch, um Kofa, der unser Gespräch nicht verfolgen konnte, auf das gute Stück aufmerksam zu machen.
»Ich hab schon verstanden«, flüsterte Sir Kofa hinter meinem Rücken.
Er trat zu uns und zog dabei rasch den Mantel aus, der ihn unsichtbar gemacht hatte. Dann nahm er die Wachsstöpsel aus den Ohren.
»Kannst du mir das Piratentuch geben? Ich würde es mir gern ansehen«, sagte er zu Melifaro.
»Oh, Sie habe ich gar nicht bemerkt«, rief Kao Anloch erstaunt. »Wann sind Sie an Bord gekommen?«
»Gerade eben«, erklärte Kofa kurz und bündig. Er nahm das Tuch, hielt es an seine Pfeife, in die ein Magieanzeiger montiert war, und nickte zufrieden. »Ich glaube, wir sollten miteinander eine Tasse Kamra trinken, Herr Kapitän. Wir müssen alles gründlich besprechen, denn ich weiß wirklich nicht, was ich mit Ihnen machen soll.«
»Vielleicht muss man gar nichts mit mir machen«, sagte Kao Anloch. »Schließlich habe ich niemandem schaden, sondern nur eine Weltreise machen wollen. Vielleicht wäre es mir dabei sogar gelungen, die Enzyklopädie von Sir Manga Melifaro um einen neunten Band zu bereichern.«
»Der neunte Band ist schon geschrieben und steht vor Ihnen«, rief ich und wies auf Melifaro, der höflich nickte.
»Mein Vater dürfte sich darüber freuen, wie sehr die Früchte seiner Kopfarbeit andere beschäftigen.«
»Sind Sie wirklich der Sohn von Sir Manga?«
»Ja, ich bin sein Jüngster«, sagte Melifaro.
Der Kapitän dachte nicht mehr an die drohende Verhaftung, sondern sah ihn verzückt an, als sei mein Kollege ein Popstar, den er um ein Autogramm bitten wollte.
»Wenn Sie uns nicht sofort zu einer Tasse Kamra einladen, verhafte ich Sie«, sagte Sir Kofa lächelnd. »Das ist Ihre einzige Chance, uns zu bestechen, Kapitän.«
»Verzeihung«, sagte Kao Anloch errötend. »Einen Sohn des großen Sir Manga kennen zu lernen, hat mich ganz durcheinandergebracht. «
Er führte uns in seine Kajüte, die einem Mädchenzimmer glich, und wir nahmen am Tisch Platz. Der Kapitän brummte eine Entschuldigung und verschwand, um Kamra zu kochen.
»Was machen wir mit diesem Mann?«, fragte Kofa.
»Auf keinen Fall verhaften wir ihn«, antwortete Melifaro. »Mein Vater würde es mir nie verzeihen, wenn ich einen seiner größten Verehrer festnehme, der zudem eine Weltreise plant.«
»Ich halte es auch für richtig, Sir Kao auf freiem Fuß zu lassen. Wenn einer der beiden am Diebstahl Beteiligten schon eine harte Strafe bekommen hat, muss man beim zweiten Dieb nicht mehr so streng sein. Arithmetisch gesehen verbüßen beide dann eine mittelschwere Strafe.«
»Kao Anloch wirkt auf euch offenbar sehr überzeugend«, sagte Kofa lächelnd. »Das liegt an seinem Talisman.«
»Du bist aber auch sehr angetan von ihm«, entgegnete ich. »Das sehe ich dir doch an. Warum hat uns dieser sympathische Kapitän bloß nicht gebeten, die Sache einfach zu vergessen und wieder ins Haus an der Brücke zurückzukehren? Das wäre eigentlich auch eine faire Lösung gewesen.«
»Sicher«, sagte Melifaro nickend. »Er hat nicht mal versucht, uns von seiner Unschuld zu überzeugen. Und es war sehr schwer für mich, ihm Fragen zu stellen. Dieser Mann hat wirklich einen enormen Charme.«
»Er weiß offenbar nicht, was ihm da in die Hände gefallen ist«, sagte Kofa. »Das ist mir auch schon klar.«
»Ja«, pflichtete ihm Melifaro bei. »Er hat das Kopftuch nur als Talisman mitgenommen und beginnt erst zu ahnen, wie nützlich es wirklich für ihn ist.«
»Der arme Mann glaubt tatsächlich, es wäre ihm auch ohne sein Kopftuch gelungen, all diese Seeleute anzuheuern, ohne dass sie nach der Heuer fragen«, meinte ich. »Nun nimmt er an, ganz Echo sei voller Menschen, die von einer Reise um die Welt träumen. Soll man über so viel Naivität weinen oder lachen?«
»Zu weinen wäre sicher unangemessen«, bemerkte Kofa.
»Ich glaube, ich habe eine gute Kamra für Sie gekocht«, meinte Kao Anloch leise und stellte Krug und Tassen auf den Tisch.
»Die riecht wirklich verheißungsvoll«, sagte Kofa mit fachmännischer Miene. Auf diesem Gebiet war er ein Kenner.
Eine Zeit lang tranken wir schweigend. Ich war sogar so frech, mir eine Zigarette anzuzünden. Allem Anschein nach war der Kapitän ein genauso zerstreuter Mensch wie Lukfi Penz. Ich hatte Lust, ihm die Zigarette unter die Nase zu halten und auf seine Reaktion zu warten.
»Gut, Kapitän, ich habe meine Entscheidung getroffen«, sagte Sir Kofa schließlich. »Einerseits haben Sie Glück, denn weder ich noch meine Kollegen wollen Sie verhaften, obwohl Sie es sicher verdient hätten. Ich weiß zwar nicht, was Sochma Pu Ihnen vor langer Zeit alles versprochen hat, aber das ist kein Grund, in den Keller seiner Familie einzubrechen und einen Koffer mitgehen zu lassen - so unnütz er gewesen sein mag. Wo ist der Koffer eigentlich?«
»Verstehe«, sagte Kao Anloch traurig. »Meine Worte haben Sie nicht überzeugt. Aber ich habe keine anderen Beweise, denn Secha war der Meinung, wir sollten alles vernichten, um keine Spuren zu hinterlassen. Und ich dachte, er habe Recht - immerhin ist er ein Profi.«
»Ach so«, sagte Kofa lächelnd.
»Unser Kapitän ist eine ehrliche Haut«, meinte Melifaro. »Heute Abend hat er noch kein einziges Mal gelogen. Ich hatte selten mit einem so aufrichtigen Menschen zu tun. Haben Sie vielleicht noch etwas Stärkeres, Kapitän? Sie haben mich heute ziemlich durcheinandergebracht, und ich muss unbedingt etwas trinken.«
»Tut mir leid, aber ich habe nichts anderes da«, sagte der Kapitän verlegen. »Ich habe nicht daran gedacht, dass man auf See etwas Stärkeres braucht.«
»Skandal!«, rief Melifaro theatralisch. »Wie wollen Sie in nüchternem Zustand eine Reise um die Welt bewerkstelligen? Ihre Mannschaft jedenfalls wird das sicher nicht begreifen.«
Der Kapitän seufzte schuldbewusst und blickte verlegen zu Boden.
»Wie auch immer - ich möchte Ihnen nochmals versichern, dass ich Sie nicht verhaften werde«, meldete sich Sir Kofa wieder zu Wort. »Aber ich habe eine Nachricht, die Sie traurig stimmen dürfte: Ich muss Ihren Talisman einbehalten«, sagte er und wedelte einmal mehr mit dem Piratentuch herum. »Und zwar nicht, weil es im Kleinen Geheimen Suchtrupp Leute gäbe, die Ihnen Ihr Glück nicht gönnen, sondern weil es sich bei diesem Tuch um ein Exemplar von solch magischer Kraft handelt, dass kein Bewohner des Vereinigten Königreichs es zu Hause aufbewahren dürfte - nicht einmal der Erbe von Sochma Pu.«
»Verstehe«, sagte der Kapitän, und seine Stimme zitterte. »Es wird keine Reise um die Welt geben. Wie sollte sie mir auch bei meinem schon sprichwörtlichen Unglück gelingen?«
»Sie wissen gar nicht, welches Glück Sie haben, dass wir Ihnen das Tuch wegnehmen«, sagte Kofa. »Den Menschen, die bei Ihnen anheuern wollen, geht es nicht um romantische Abenteuer - sie können sich nur nicht der magischen Kraft Ihres Talismans entziehen. Aber wenn Sie Echo verlassen, verliert er an Kraft, und irgendwann befinden Sie sich inmitten zorniger Seebären, die nicht umsonst für Sie arbeiten wollen.«