Schließlich war ich so kraftlos, dass ich tatsächlich aufwachte. In dem schönen Schlafzimmer, das Sir Philo mit eigenen Händen getischlert hatte, war es herrlich ruhig. Draußen war es dunkel und still. Offenbar waren die Vögel noch nicht wach. Die Runenzeichen an der Decke brauchten nur ein paar Sekunden, um meine erschrockenen Herzen zu beruhigen, und schon Minuten später wiegten sie mich wieder sanft in den Schlaf. Diesmal meinten es die Engel, die für meine Träume zuständig waren, gut mit mir und gaben mir einen so kitschigen wie unsinnigen Traum. Das war wirklich eine Erholung.
Bei Sonnenaufgang erwachte ich glücklich und entspannt. Keine dunklen Geheimnisse trübten meine Laune. Ich dachte nur daran, dass es tatsächlich so herrliche Strände gab und ich vielleicht einmal das Glück hätte, dorthin zu gelangen. Etwas Ähnliches war mir schon in der Nähe von Kettari passiert. Als ich dort in den Bergen unterwegs gewesen war, hatte ich ein kleines Dorf aus den Träumen meiner Kindheit gefunden.
»Sir Philo«, sagte ich leise und blickte zur Decke. »Ich vergöttere Sie und weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte. Am liebsten würde ich mich auf die Liste Ihrer Ehrenenkel setzen lassen.«
Die Decke schwieg, wie nicht anders zu erwarten war, doch meine Stimmung wurde noch besser. Beinahe wäre ich die Treppe heruntergeschwebt.
Kurz darauf landete ich im Wohnzimmer. Endlich hatte ich Gelegenheit, einmal allein zu frühstücken und meinen Kollegen und Gastgeber Melifaro mit sadistischer Freude zu wecken. Er verließ das Bett morgens so wenig begeistert wie ich zu Schulzeiten. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ihn kein Tohuwabohu, sondern ein angenehmer Tag im Haus an der Brücke erwartete.
Doch mein Kollege war ausnahmsweise von allein wach geworden und bester Laune.
»Na, Hoheit - zufrieden?«, fragte er.
»Dieses Jahr werde ich dich noch verschonen, aber für das nächste Jahr will ich mich nicht festlegen.«
»An deiner Stelle wäre ich vorsichtig. Schließlich bin ich - den Magistern sei Dank! - nicht dein Untertan.«
»Du wirst deine Ansicht schon noch ändern, wenn meine Nomaden erst die Straßen von Echo unsicher machen. Unter uns gesagt: Ich habe einen Geheimplan, der die Verschmelzung des Vereinigten Königreichs und der Leeren Länder vorsieht. Ich will nämlich König beider Gebiete werden.«
»Das klingt angenehm schrecklich«, rief Melifaro entzückt und schob sich eine gewaltige Scheibe Brot in den Rachen, ohne mit der Wimper zu zucken. »Aber ich werde dich denunzieren. So was hab ich zwar noch nie gemacht, aber irgendwann muss man ja mal damit anfangen.«
»Vielleicht änderst du deine Meinung, wenn ich dir das Amt des Premierministers anbiete?«
»Das klingt sehr verlockend. Fahr mich doch mit deinem A-Mobil nach Echo zurück. Dann sehen wir weiter.«
»Du bist aber rasch zufrieden zu stellen. Einverstanden.«
»Dich als Privatchauffeur zu haben, ist einer meiner größten Träume.«
»Ich weiß leider, was man damit verdienen kann«, seufzte ich. »Ich war mal arm, musst du wissen - und das hat mir nicht besonders gefallen.«
»•Ich habe gar nicht bemerkt, dass deine materielle Lage sich so rasant gebessert hat. Aber lass uns jetzt fahren - ich muss wirklich dringend ins Haus an der Brücke.«
Der Rückweg nach Echo führte durch eine sehr schöne Landschaft. Melifaro, den ich bisher als Sonnenanbeter gekannt hatte, ließ den Kopf hängen. Er erwartete offenbar, dass ich ihn unterhielt, doch ich konzentrierte mich ganz auf den Weg. Irgendwann schlief er ein.
Ich hingegen widmete all meine Aufmerksamkeit dem herrlichen Morgen. Über uns stand eine kleine Wolke, aus der es ein wenig regnete, und jeder Tropfen auf meiner Haut war ein Erlebnis. Erst kurz zuvor war mir aufgefallen, wie sehr sich der Regen in Echo von dem Regen der Welt unterscheidet, aus der ich stamme. Wie hatte ich mich nur die ersten dreißig Jahre meines Lebens mit tristem Nass zufriedengeben können? Das Wasser war zwar gleich, roch in Echo aber herrlich nach Blumen und war leicht violett gefärbt.
Mit Vergnügen vergegenwärtigte ich mir, in dieser Welt noch immer neu zu sein. Und ich wollte nicht, dass sich dieser Zustand bald änderte. Es gab noch so vieles zu entdecken, doch es gab auch noch sehr viele Möglichkeiten, sich zu blamieren. Und noch tausenderlei Kleinigkeiten, über die ich mich würde wundern können. Auch an diesem Morgen tat ich nichts anderes.
Ich lieferte das Tagesantlitz des Ehrwürdigen Leiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps pünktlich im Haus an der Brücke ab. Auch mir konnte es nicht schaden, im Büro vorbeizuschauen, um Sir Juffin kurz die Geschichte meines seltsamen Traums zu erzählen.
Doch mein Chef war noch nicht da. Ich vermutete ihn in der Straße der alten Münzen, da ich wusste, dass seine Filmleidenschaft noch immer nicht erloschen war, ließ ihn aber in Ruhe, denn die Probleme von Schürf und mir konnten bis zum Abend warten - anders als meine Freundin Techi, die sicher ungeduldig im Bett lag und sich von einer Seite auf die andere wälzte. Am Vorabend hatte sie mich schon gebeten, sie auf dem Laufenden zu halten, und ich konnte die wunderbare Lady unmöglich enttäuschen. Es gibt im Leben einfach Regeln, gegen die man nicht verstoßen sollte.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang kam ich ins Haus an der Brücke und ging gleich in mein Büro, das ich mit Sir Juffin teilte. Auf der Lehne meines Stuhls saß Kurusch. Sonst war niemand da.
»Wo treibt sich unser Chef herum, mein Lieber?« , fragte ich den Buriwuch.
»Das weiß ich nicht«, gab der kluge Vogel schwermütig zurück. »Irgendwann ist er gekommen und irgendwann gegangen. Die Menschen zeichnen sich durch eine gewisse Unrast aus.«
»Da hast du Recht«, pflichtete ich ihm bei, seufzte und meldete mich per Stummer Rede bei Juffin. »Ich bin schon zum zweiten Mal ins Haus an der Brücke gekommen, und Sie sind noch immer nicht da!«
»Selber schuld! Wenn du dich mit mir treffen willst, solltest du dir endlich angewöhnen, dort aufzutauchen, wo ich bin. Was machst du eigentlich im Büro? Soviel ich weiß, hast du zwei Sorgenfreie Tage bekommen. Ist dein Leben etwa so langweilig, dass du es ohne Arbeit nicht aushältst?«
»Aber nein. Ich bin ganz zufrieden mit meinem Leben, doch Sie wissen ja, dass ich manchmal etwas kopflos bin. Ich hätte schwören können, die zwei Tage seien schon um.
Aber Spaß beiseite - ich habe ein paar Fragen, die nur Sie mir beantworten können.«
»Ich habe eine bessere Idee: Verschieben wir die Sache doch auf morgen. Sollte es allerdings wirklich dringend sein, besuch mich heute Abend in der Straße der alten Münzen. Dort triffst du mich garantiert.«
»Abgemacht.«
»Und jetzt verschwinde aus meinem Büro. Ich kenn dich doch - du trinkst dort eine Tasse Kamra nach der anderen und behauptest dann, du hättest Überstunden gemacht.«
»Immerhin ist es auch mein Büro«, gab ich etwas gereizt zurück. »Aber gut, ich geh ja schon.«
»Das glaube ich nicht.«
Als ich merkte, dass mein Chef sich nicht so leicht überlisten ließ, seufzte ich tief, erhob mich von dem Stuhl, auf dem ich es mir gerade bequem gemacht hatte, und begab mich in den Saal der allgemeinen Arbeit, doch auch Sir Schürf, den ich dort anzutreffen gehofft hatte, war nirgendwo zu sehen. Also beschloss ich, ihn in seinem Büro aufzusuchen.
Schurfs großes Zimmer war penibel aufgeräumt, doch er war ausgeflogen. Aber ich spürte, dass er bald auftauchen würde, und weil ich meine Vorahnungen ernst nehme, meldete ich mich nicht per Stummer Rede bei ihm, sondern zog ein Buch aus dem Regal und hockte mich in die Ecke, um mir lesend die Zeit zu vertreiben.
Ich hatte ausgerechnet Das Pendel der Ewigkeit erwischt, ein Buch, das ich schon mal bei Schürf gesehen hatte. Aber ich hatte keine Zeit für literarische Genüsse, denn schon Sekunden später öffnete sich die Tür mit einem leisen Quietschen.