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»Du kommst früher als erwartet«, sagte ich und stand auf, um Schürf zu begrüßen.

Dann stellte ich das Buch ins Regal zurück, um den Ordnungssinn meines Freundes nicht zu beleidigen.

»Ich freue mich, dich zu sehen, Max«, sagte Sir Lonely-Lokley, und ein Anflug von Freundlichkeit belebte sein sonst so versteinertes Gesicht. »Aber bitte stell das Buch an seinen Platz zurück.«

»Das hab ich doch gerade getan!«

»Von wegen - du hast das Buch zwar ins Regal gestellt, aber nicht an seinen Platz. Es ist das dritte von rechts, steht jetzt aber ganz außen. Weißt du, Max - ich bin nicht per se gegen Veränderung, aber Willkür kann ich nicht ausstehen.«

Reumütig stellte ich das Buch an seinen Platz zurück. Dann hielt ich es nicht mehr aus und musste lachen. »Das ist großartig, Schürf. Manchmal habe ich den Eindruck, du trägst die ganze Welt auf den Schultern.«

»Das kann wohl sein«, stellte er ungerührt fest. »Hast du Neuigkeiten für mich, oder bist du einfach so vorbeigekommen?«

»Beides. Aber meine Neuigkeiten passen nicht in diese dienstliche und sterile Atmosphäre. Ein Abendessen bei Kerzenschein wäre schon passender. Hast du Zeit?«

»Warum denn ausgerechnet Kerzen?«, fragte Lonely-Lokley pedantisch. »In Echo gibt es kaum Wirtshäuser, in denen noch Kerzen in Gebrauch sind. Schließlich gibt es viel effizientere Lichtquellen.«

»Auf Kerzen kann ich verzichten«, versetzte ich im Ton eines Menschen, der es gewöhnt ist, nachzugeben. »Eigentlich können wir sogar auf das Abendessen verzichten, denn so viele Neuigkeiten habe ich auch nicht. Ich verbinde nur gern das Angenehme mit dem Nützlichen.«

»Genau wie ich«, sagte Sir Schürf und lächelte plötzlich. »Wenn es Kerzen sein sollen, können wir ins Nachtmahl des Vampirs gehen. Die Küche dort ist nicht übel, und das Lokal ist selten bis auf den letzten Tisch besetzt.«

»Das Nachtmahl des Vampirs ist ein berüchtigtes Lokal - ich hätte nicht gedacht, Schürf, dass du dort verkehrst.«

»Früher gehörte es zu meinen Lieblingswirtshäusern, und noch immer fühle ich mich dort sehr wohl. Zeitweise habe ich jeden Abend dort getäfelt.«

»Wann war denn das? In deiner stürmischen Jugend, als du noch der Verrückte Fischer warst?«, fragte ich spöttisch.

»Etwas später. Übrigens bin ich dort meiner Frau begegnet. Mich faszinierte, dass sie stets bestellte, was ich für vollkommen unessbar hielt, und ich dachte, sie kennen zu lernen, werde mir Zugang zu mir unbekannten Seiten der menschlichen Existenz verschaffen, zur Welt derer, die Wein aus Kuankulech schätzen - oder Haty auf lochrische Art.«

Erstaunt schüttelte ich den Kopf. Schürf hatte mal wieder geschafft, mich in Verlegenheit zu setzen. Manchmal hatte ich das Gefühl, er tue das unabsichtlich und ohne Hintergedanken. Mitunter dagegen argwöhnte ich, er trage alles, was mich schockiert hatte, in ein Notizbuch ein, ziehe alsdann seine Handschuhe aus und lache sich in sein tödliches Fäustchen.

Die Einrichtung im Nachtmahl des Vampirs machte dem Namen des Lokals alle Ehre. Kerzen leuchteten im Halbdunkel, auf den Tischen stand eine rote Flüssigkeit, die an Blut denken ließ, und auch das Makeup des untersetzten Kellners, der gutgelaunt und unterbeschäftigt an der Theke stand, passte hierher. Sein Gesicht war bleich, seine Augen waren dramatisch geschminkt, und sein roter Mund ließ mich vermuten, er habe das Blut unschuldiger Kinder gleich literweise getrunken.

Erstaunt schüttelte ich den Kopf. Mein erster Besuch hier hatte sicher nicht zu den schönsten Erlebnissen meines Lebens gehört, meine Stimmung aber deutlich verbessert. Und heute war ich ohnehin gut gelaunt.

Wir waren die einzigen Gäste und nahmen an einem langen Tisch Platz. Der Kellner war über unser Auftauchen sehr erfreut und brachte uns rasch die Speisekarte. Trotz seiner Furcht erregenden Schminke wirkte er freundlich. Offenbar verwirrten ihn weder Lonely-Lokleys Schutzhandschuhe noch mein Todesmantel. Im Gegenteil - wir passten sehr gut hierher.

»Ich hab hier mal den Atem des Bösen probiert«, erinnerte ich mich. »Ausgezeichnet, Schürf. Den kann ich nur empfehlen.«

»Seltsam. So ein Gericht ist mir hier nie begegnet.«

»Du warst eben kurz nach der Verabschiedung des Chrember-Gesetzbuchs zum letzten Mal hier. Ich dagegen habe das Lokal erst kürzlich entdeckt, gleich nach dem Erlass nämlich, der es den Köchen erlaubt, bei der Zubereitung ihrer Gerichte Magie achtzehnten Grades anzuwenden.«

»Richtig! Das ist ja ein Gericht der alten Küche! Aber du übertreibst wie immer. Ich war vor vier Jahren das letzte Mal hier - und nicht vor 118 Jahren, wie du mir unterstellst. Doch ich probiere gern, was du mir empfohlen hast.«

Schurfs Miene war so ernst, als sprächen wir darüber, welche Waffe uns das Leben retten konnte.

Wir bekamen unsere Bestellung serviert. Die kleinen Piroggen wuchsen binnen Sekunden wie Popcorn, und Schürf lobte meine Empfehlung sehr. Nun war die Zeit reif, ohne Umschweife zur Sache zu kommen.

»Ich bin heute Nacht dort gewesen«, sagte ich.

Schürf hob fragend die Brauen.

»Ich war in unserem gemeinsamen Traum«, erklärte ich. »Letzte Nacht habe ich im alten Zimmer von Sir Philo Melifaro geschlafen und im Traum den seltsamen Strand besucht, doch er war menschenleer. Das Einzige, worauf ich stieß, waren deine Spuren im Sand.«

»Wie kommst du darauf, dass es ausgerechnet meine Spuren waren?«, fragte Sir Schürf kühl.

»Das weiß ich nicht, aber ich bin mir da absolut sicher. Übrigens waren es keine Fuß-, sondern Sohlenspuren. Trägst du deine Schuhe etwa auch im Schlaf?«

»Red keinen Unsinn. Ich hab im Bett nicht mal Strümpfe an, trage im Traum allerdings immer Schuhe. Du willst doch nicht behaupten, dass du in deinen Träumen barfuß unterwegs bist?«

»Eigentlich nicht«, pflichtete ich ihm bei. »Aber dieser Traum ... Dieser Strand ist kein Traum. Er ist echt. Davon hab ich mich letzte Nacht endgültig überzeugt. Ich wüsste gern, in welcher Welt er sich befindet. Jedenfalls glaube ich, dass es dort keine anderen Menschen gibt. Weißt du, schon früher hab ich von menschenleeren Gegenden geträumt, mich dort aber nie unwohl gefühlt, weil mir klar war, dass es irgendwo Menschen gibt. Eigentlich war ich in solchen Träumen immer sehr glücklich. Und bis jetzt hab ich gedacht, der Strand meiner Träume zähle zu diesen angenehm menschenleeren Plätzen.«

»Und diesen Eindruck hast du jetzt nicht mehr?«, fragte Lonely-Lokley ungerührt.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab dir doch gerade gesagt, dass es den Strand tatsächlich gibt. Das ist keiner von den Träumen, die man beim Zähneputzen vergessen hat. Außerdem ist der Strand wirklich leer. Früher hab ich ihn gemocht, aber inzwischen ... Weißt du, ich bin nicht so seltsam gestrickt, nur das zu lieben, was für mich gefährlich ist. Ich möchte nicht, dass du dich dort herumtreibst, Schürf, aber ich glaube, das liegt nicht in deinem Ermessen.«

»Stimmt. Ich fürchte, das hab ich nicht unter Kontrolle«, pflichtete er mir bei. »Und was hast du jetzt vor? Wenn ich dich richtig verstanden habe, willst du die Sache nicht auf sich beruhen lassen.«

»Ich würde gern alles so lassen wie es ist«, seufzte ich. »Aber ich kann es nicht.«

»Also habe ich Glück«, sagte Schürf leicht belustigt. »Du willst alles mit Sir Juffin besprechen, oder?«

»Richtig - sofern du nichts dagegen hast. Und selbst wenn: Irgendwie haben all meine Probleme mit Juffin zu tun. Das ist wohl ein Naturgesetz. Und in der gegenwärtigen Lage bleibt mir nichts anderes übrig, als mit meinem Problem zu ihm zu gehen. Vielleicht weiß er eine Lösung für uns.«

Schürf griff nach seiner winzigen Tasse Kamra, nahm einen Schluck und stellte sie vorsichtig wieder ab. Wie ihm solche Feinarbeit trotz seiner dicken Handschuhe gelang, würde ich wohl nie begreifen.

»Vielleicht hat er eine Lösung - vielleicht auch nicht. Wie kommst du eigentlich darauf, ich hätte etwas dagegen, Sir Juffin einzuschalten?«, fragte Schürf trocken.