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»Verstehe. Manchmal, wenn ich nachts aufwache, kann ich mich auch nicht an Einzelheiten meines Traums erinnern. Ich schließe dann die Augen und versuche einzudösen, also mich erneut an die Grenze von Traum und Wirklichkeit heranzutasten. Aber ich fürchte, in deinem Fall hilft diese Methode nicht mehr, denn sie funktioniert nur direkt nach dem Aufwachen.«

»Du willst unbedingt, dass ich mich an die Einzelheiten meines Traums erinnere, stimmt's?«

Schurfs gehässiger Unterton überraschte mich. Dabei war er schon den ganzen Abend recht gereizt gewesen - jedenfalls für seine Verhältnisse, für einen Menschen also, der an sich die Ruhe und Ausgeglichenheit in Person war. Im Übrigen musste ich mich auf die Straße konzentrieren,

denn ich jagte mit Höchstgeschwindigkeit durch die Gassen der Altstadt.

»Es würde uns weiterbringen, wenn es dir gelänge, dich an alle Details deines Strandtraums zu erinnern«, sagte ich lächelnd und wandte mich Schürf dabei unwillkürlich so weit zu, wie die Schicklichkeit und das Bedürfnis, die Kontrolle über den Wagen zu behalten, es erlaubten. Dabei bemerkte ich zu meiner Überraschung, dass er den linken Schutzhandschuh auszog und die tödliche Hand des Magisters Kiba Azoch zum Vorschein brachte, die in der Dunkelheit heller leuchtete als die Straßenlaternen.

Hätte ich mir Gedanken über das gemacht, was ich da sah, oder wäre ich gar in Panik geraten, dann wäre ich sicher gestorben. Doch ich versuchte gar nicht erst zu begreifen, was los war, denn das wäre ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen. Sir Schürf, mein treuster Freund, auf dessen Schultern nach meiner naiven Vorstellung die ganze Welt ruhte, wollte mich umbringen, ohne auch nur ein Wort über sein seltsames Vorhaben zu verlieren.

Ich bremste so stark wie nie. Meine rechte Hand, die das Lenkrad hielt, knackte gefährlich, doch zum Glück schlug mein Gesicht nicht gegen die Frontscheibe. Mein Begleiter dagegen, der nicht mit einer Vollbremsung gerechnet hatte, streckte schützend die gefährliche Linke aus, und die Frontscheibe zersprang prompt in tausend Stücke. Intuitiv nahm ich den Schutzhandschuh, zog ihn Schürf über die gefährliche Hand und hielt seine Pranke fest. Das Ganze dauerte nur Sekunden.

»Na, hast du jetzt Angst vor mir?«, flüsterte das Wesen, das von Schürf Besitz ergriffen haben musste. Denn was geschehen war, konnte unmöglich dem freien Willen meines Freundes entsprungen sein.

Das Geschöpf, das da neben mir saß, hatte sich offenbar bereits von seinem Schock erholt und setzte erneut zum Angriff an. Gut, dass ich ihm den Handschuh übergezogen hatte! Zum Nachdenken freilich blieb mir keine Zeit.

Unwillkürlich schnippte ich mit den Fingern der linken Hand, und der tödliche Kugelblitz erschien wie bestellt. Seltsam - ausgerechnet diesen Trick hatte mir kein anderer als Schürf beigebracht. Wer hätte gedacht, dass gerade er es war, gegen den ich mich damit zur Wehr setzen musste!

»Unsinn! Das ist Unsinn, was du da machst! All deine Zaubertricks sind Unsinn! Du bist ein furchtbarer Stümper!«, rief mein Kollege amüsiert und streckte die Rechte aus. Das grüne Licht meines Kugelblitzes flimmerte und verschwand. Im selben Moment befreite Schürf seine Linke ohne große Anstrengungen. Ich war nicht besonders stark, und wie hätte ich mich gegen ein Kraftpaket wie ihn durchsetzen sollen?

Ich musste zugeben, dass er Recht hatte: Ich war wirklich kein großer Zauberkünstler und hatte nichts in der Hand, um dem Schnitter des Lebensfadens - dem bekannten Killer Schürf Lonely-Lokley, der schon viele alte Magister auf dem Gewissen hatte - Paroli zu bieten. Vielleicht sollte ich diesen Verrückten einfach in meiner linken Hand verschwinden lassen?

Aber im Hinterkopf wusste ich, dass mein liebster Zaubertrick in diesem Fall einem Selbstmord gleichkäme. Egal, wie klein Sir Schürf war: Nichts würde ihn davon abhalten, seine tödliche Hand gegen mich zum Einsatz zu bringen. Und das wäre mein Ende.

Zum Glück war dieses Ende noch lange nicht in Sicht.

Spuck ihn an!, empfahl mir die Vernunft, doch ich hörte nicht auf sie, da ich keine Zeit mit Experimenten verlieren wollte, deren Resultat vorhersehbar war.

Ich hatte mir überlegt, dass Sir Schürf als mein Kollege, der mich auf den gefährlichsten Abenteuern begleitet und mir viele, bestens funktionierende Zaubertricks beigebracht hatte, genau wusste, womit er bei mir rechnen musste und was er von mir erwarten konnte. Er war also auf alles gefasst - auch darauf, dass meine Spucke giftig war. Um am Leben zu bleiben, sollte ich also auf all die Zaubertricks verzichten, die er schon kannte, und mir etwas Neues einfallen lassen, das ihn überraschen würde.

Ich hatte nichts mehr zu verlieren, und der Tod stand mir vor Augen. Sir Schürf zog erneut den linken Handschuh aus, ließ sich dabei zum Glück aber so viel Zeit wie sonst. Doch egal, wie langsam er den Handschuh abstreifte: Ich hatte keine Hoffnung mehr.

Mir blieb nichts anderes übrig, als heiter und mit Stil zu sterben. Und warum auch nicht? Meine spärlichen, aber traurigen Erfahrungen mit dem Leben nach dem Tod sagten mir, dass es nach dem Sterben nichts mehr gab.

Ich lachte wie ein Verrückter, sprang unvermittelt auf, ohne zu wissen, warum, und stellte fest, dass ich keinen Boden unter den Füßen hatte: Die seltsame Leichtigkeit, die nach dem Trinken aus der löchrigen Tasse von mir Besitz ergriffen hatte, sorgte dafür, dass ich in der Luft blieb. Im nächsten Moment stellte ich staunend fest, dass ich von oben auf die engen Straßen der Altstadt blickte. Das Leuchten der orangefarbenen Straßenlaternen war nur noch schwach zu erkennen, und ich flog weiter gen Himmel.

Die ganze Zeit lachte ich wie verrückt. Nein, ich war verrückt. Wie anders hätte es einem Menschen gehen sollen, den sein bester Freund umbringen wollte? Das seltsame Gefühl, über dem nächtlichen Echo zu schweben wie Puh der Bär mit seinem Luftballon, war nur ein Glied mehr in der Kette von Seltsamkeiten, die mir an diesem Abend widerfuhren.

Ein greller Blitz vom Erdboden her ließ mich wieder zu mir kommen. Ich hatte keine Ahnung, wie weit ich mich von Sir Schurfs tödlicher Hand entfernt hatte, war aber überzeugt, die Gefahr sei vorbei.

Trotzdem fand ich es beruhigend, weit von Schürf weg zu sein. Der Blitz erleuchtete die Dächer der Altstadt nur kurz und verschwand dann wieder. Ich dagegen schwebte offenbar viel höher und war für seine tödliche Hand unerreichbar.

Ich muss mich unbedingt mit Sir Juffin treffen, dachte ich. Ich gehöre dringend unter seine Fittiche. Allein werde ich mit der Situation nicht fertig.

An diesem Gedanken hielt ich mich fest wie ein Ertrinkender an einem Rettungsring. Ich ließ die Geschehnisse des Abends kurz Revue passieren, versuchte, mir die Reaktion meines Chefs vorzustellen, und bat den Himmel, mich ohne Blessuren auf die Erde zurückkehren zu lassen. Dann sah ich nach unten und stellte fest, dass der Boden wesentlich näher war als kurz zuvor. Beunruhigend fand ich nur die Aussicht, wieder in die Nähe von Sir Schürf zu geraten.

Dann aber stellte ich fest, dass weder er noch sein A-Mobil irgendwo zu sehen waren. Ich schwebte über einer Straße in der Nähe des Hauses an der Brücke und wollte nur eines: endlich wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Im nächsten Moment war es so weit. Ich spürte, wie meine Füße den Gehsteig berührten, und versuchte gar nicht erst zu verstehen, warum ich wieder der Schwerkraft unterlag, sondern eilte nur zum Haus an der Brücke.

Ich glaube, an diesem Abend habe ich alle Sprintrekorde gebrochen. Mein überlastetes erstes Herz wäre mir beinahe aus der Brust gesprungen, doch mein geheimnisvolles zweites Herz blieb die ganze Zeit völlig ruhig.

In der Straße der Kupfermünzen fiel mir ein, dass der Arbeitstag meines Chefs schon beendet war. Also rannte ich nicht weiter zum Haus an der Brücke, sondern sprang ans Steuer des nächsten Dienst-A-Mobils. So brauchte ich - den Magistern sei Dank! - keinem Chauffeur etwas zu erklären. Das wäre mir, da ich völlig außer Atem war, auch schwer gefallen.