Als ich überlegte, womit ich mich beschäftigen könnte, bemerkte ich das Metallplättchen von Mara, das ihr Boyd bei der Aufnahme des Elektrokardiogramms abgenommen hatte. Ich sah es mir genau an: Es glänzte metallisch, schien aber nicht aus Metall zu bestehen, ich tippte eher auf Kunststoff. An der einen Seite der Oberfläche war eine feine Struktur zu erkennen, ein regelmäßiges Muster einer Vielfalt von Zeichen, die sich nur selten wiederholten. Die Vermutung lag nahe, es könnte sich um eine Art Legitimation handeln.
Plötzlich kam mir ein Gedanke. Ich blickte auf die Uhr – etwa zehn Uhr Vormittag. Den anderen sagte ich, ich würde in etwa zwei Stunden wieder zurück sein, dann stieg ich aus, setzte mich in den Raumgleiter und fuhr über die Hügelkette zur Siedlung hinunter. Alles schien unverändert. Ich fand ebensoviel oder - sowenig Beachtung wie an den Tagen zuvor. Auf einen Unterschied wurde ich allerdings aufmerksam: Als ich nämlich heftig an der Mauer anstieß. Sie war undurchlässig geworden! Lag es an der Plakette? Ich hatte sie mir um das Armgelenk gebunden – so wie sie auch von den anderen getragen wurde. Nun legte ich sie ab und trat wieder auf die Wand zu – tatsächlich, ich konnte wieder hineinfassen wie früher. Es war also die Plakette, die die Mauer zum undurchdringlichen Hindernis werden ließ! Ich schnallte mir die Plakette wieder um und ging langsam zu den Zellen vor. Ich blickte auf die Uhr – kurz vor elf. In Kürze mußte es zur ersten Verdunklungsphase kommen!
Ich trat in eine der Zellen – offenbar gab es keine individuellen Unterschiede, kein Eigentum. Es war also gleichgültig, welche ich aussuchte. Und eine mußte ja freibleiben, da sich Mara im Raumschiff aufhielt. Ich legte mich auf die Pritsche.
Pünktlich wie jeden Tag brach die Nacht über das Gebäude herein. Ich hörte ein schleifendes Geräusch neben und über mir, dann ging ein leiser Ruck durch mein Lager, ich fühlte, daß ich abwärts fuhr.
Es blieb völlig dunkel. Leises Summen lag in der Luft, aber trotzdem hatte ich nicht den Eindruck, mich in einem großen Raum zu befinden. Ich streckte tastend meinen Arm aus, doch stieß ich sofort auf eine Art Gitter, das mich ganz zu umgeben schien.
Plötzlich wurde es hell, ich erblickte Gegenstände, bemerkte Bewegung … Dabei hatte ich aber nicht den Eindruck, daß das Licht von außen kam, eher war es die dämmrige Helligkeit einer Halluzination. Und dann wurden die Eindrücke plötzlich strudelnd, intensiv, allumfassend. Es handelte sich nicht nur um Licht, sondern auch um Geräusche, um Spannungen, um Gefühle … Mir wurde schwindlig, und obwohl ich mir bewußt war, daß ich immer noch unter dem Eindruck dieses Ansturms stand, verlor ich das Bewußtsein meiner Identität, war nur noch ein passives Bündel, das durch farbige und tönende Fluten getrieben wurde … Das dauerte eine Weile, bis plötzlich ein Stillstand eintrat, eine Leere, ein Abgrund … und dann kam eine Forderung, der Zwang zu einer Antwort, zur Reaktion … Und dann strömten sie wieder, die Formen, Töne, Emotionen, aber diesmal war ich es, der sie produzierte, in einem imaginären Raum um mich herum aufbaute …
Die Beanspruchung war so intensiv, daß ich nebenher nichts denken konnte, daß ich, als es vorbei war, ausgehöhlt und ausgebrannt war, mich nur noch an die ersten Phasen des Geschehens erinnern konnte … Was später geschehen war, wußte ich nicht – es war irgendwie auf gleiche Art weitergegangen, mit Aktion und Reaktion, Frage und Antwort – ich war es gewesen, der reagiert, der geantwortet hatte. Wozu? Die Bedeutung? Ich wußte es nicht.
Ich fand mich auf dem Lager in der Zelle wieder, brauchte eine Weile, ehe ich taumelnd aufstehen konnte. Als ich mich gefangen hatte, waren die anderen, die wahrscheinlich dasselbe mitgemacht hatten, längst wieder in den Räumen zerstreut, erfreuten sich an den Tänzen, an den Bildern, an den Spielen – am süßen Nichtstun.
Ich hatte für diesmal genug und kehrte ins Raumschiff zurück. Nachdem ich mich ein wenig ausgeruht hatte, berief ich eine Versammlung ein und schilderte meine Erlebnisse. Das Echo war lange nicht so lebhaft, wie ich es erwartet hatte. Boyd vermutete, es handelte sich um irgendeine Art der Ausbeutung, und in meinen Erlebnissen fände er die Bestätigung dafür, daß es sich nicht um eine freiwillige, sondern um eine erzwungene Leistung handelte. Im übrigen aber schien ihm Mara wichtiger zu sein. Sie saß bei uns, obwohl sie sicher nicht verstand, worüber wir uns unterhielten, und machte sogar einen zufriedenen, fast fröhlichen Eindruck. Boyd hatte ihr wieder Zuckerlösung gegeben, und fast hatte es den Anschein, als sei dies die richtige Ernährung. Dann hatte er sie in den Duschraum geführt, und nach einigem Zögern schien sie am Wassergeplätscher Gefallen zu finden, obwohl Duschen und Baden offenbar neu für sie war.
»Ich glaube, wir sind einen wesentlichen Schritt weitergekommen«, meinte Boyd. »Zunächst wissen wir, daß die Bewohner dieses Planeten dem Menschen verwandt sind. Ich kann nicht glauben, daß sie von Natur aus so inaktiv und desinteressiert sein können – sicher werden sie künstlich unter Betäubung gehalten. Dagegen müssen wir etwas unternehmen! Die Regierung oder die Leitung – wie wir sie auch nennen wollen – hat offenbar nichts dagegen einzuwenden, daß wir uns mit den Einwohnern beschäftigen.«
Mischa meldete sich zögernd zu Wort: »Warum muß es sich eigentlich um eine Unterdrückung handeln?«
»Worum sonst?« fuhr ihn Boyd an. »Die Verhältnisse hier entsprechen weitgehend jenen, wie wir sie auf der Erde vorfinden. Die Bevölkerung wird mit Absicht auf einem niedrigen Intelligenzniveau gehalten und hat daher keine Möglichkeit, sich gegen die Willkürakte der herrschenden Klasse zu wehren.«
»Ich bin mir nicht so sicher, ob man in diesem Fall die Erde als Beispiel nehmen darf«, meinte Mischa. »Es könnte sich ja um irgendeine soziologische Situation handeln, für die es auf der Erde kein Vorbild gibt. Etwas für uns völlig Neues, nicht Vorstellbares.«
»Und was für eine Beziehung könnte zwischen den menschlichen Einwohnern und den Spindelwesen bestehen, wenn nicht die zwischen Herrschenden und Unterdrückten?« fragte Ingrid.
Mischa hob die Schulter – er hatte keine konkrete Antwort zu bieten, und somit blieb die Annahme von Herrschern und Untergebenen die einzig plausible.
»Was können wir tun?« fragte Naomi.
Ingrid hob die Hand. »Wir könnten in einem Funkspruch gegen die Unterdrückung des Volks protestieren.«
»Meinst du, daß ein Protest Sinn hat?«
»Man könnte es immerhin versuchen!«
»Viel wichtiger wird es sein, in einer gezielten Aktion mit den Einwohnern zu kooperieren.« Boyd legte den Arm auf die Schultern Maras, die neben ihm saß. »Ich glaube, es kann nicht allzu schwer sein, die Leute aus ihrer Passivität herauszureißen. Seht Mara an! Schon jetzt hat sie merklich an Individualität gewonnen.«
Ich folgte der Diskussion mit gemischten Gefühlen, und auch Mischa schien meine Zweifel zu teilen. »Ich weiß nicht recht«, sagte er, »wir haben hier um Asyl gebeten. Später werden wir weitere Bitten anbringen müssen: um Nahrung, um Wasser, um Energie. Man sieht es nirgends gern, wenn Emigranten politische Initiative ergreifen.«
»Ich glaube, wir sollten uns über solche Bedenken hinwegsetzen«, sagte Nuru. »Wenn es irgendwelche Einsprüche geben sollte, so können wir immer noch verhandeln. Am wichtigsten ist es zunächst, dem Volk die Freiheit wiederzugeben. Wenn wir die Einwohner hinter uns haben, dann wird sich die Regierung hüten, uns schlecht zu behandeln.«
Trotz der Gegenstimmen von Mischa und mir und der Stimmenthaltung von Naomi wurde ein Aktionsprogramm beschlossen. Zunächst wollten wir versuchen, durch aufklärende Vorträge – in einer Diktion, die dem Verständnis der Leute angemessen war – aktivierend zu wirken. Erstes Ziel sollte sein, daß sie sich weigerten, ihre tägliche Stunde »Arbeit« zu absolvieren. Da die Plaketten irgendeine Rolle in der physischen und psychischen Unterdrückung zu spielen schienen, wollten wir sie dazu bringen, sie abzulegen. Dann konnten sie sich ebenso frei wie wir durch die Gebäude bewegen, wir vermuteten aber auch, daß sie geistig beweglicher würden.