An den nächsten Tagen versuchten wir, diesen Plan zu verwirklichen. Es war ein eklatanter Mißerfolg. Alle Aufrufe und Beschwörungen nützten nichts, immer weniger Leute waren bereit, uns zuzuhören, obwohl wir ihre Sprache schon gut beherrschten. Wenn wir versuchten, in eine Diskussion zu kommen, so erhielten wir zur Antwort, alle seien glücklich und zufrieden, daher sei es überflüssig, etwas zu ändern.
Nach einer Woche mußten wir uns eingestehen, daß wir nichts erreicht hatten.
»Wir müssen energischer vorgehen«, meinte Boyd. »Ich schlage vor, wir nehmen ihnen zunächst die Plaketten weg. Ich glaube nicht, daß sie sich ernstlich wehren werden.«
»Könnte ihnen das nicht schaden? Vielleicht haben die Plaketten eine lebenswichtige Funktion?«
»Mara ist noch immer gesund«, entgegnete Boyd. »Ihr hat die Umstellung gutgetan. Gewiß können wir die Leute nicht gleich von ihrem System lösen, aber wir müssen es transparent machen. Wir müssen sie dazu bringen, daß sie in die unteren Räume eindringen und nachsehen, was dort eigentlich vor sich geht. Wir werden ihnen dabei helfen. Wahrscheinlich findet dort eine medizinische Betreuung statt, ohne die sie auf die Dauer nicht existieren können. Schließlich lebt man nicht vom Zuckerwasser. Aber es müßte gelingen, an die Nährmittel und Medikamente heranzukommen und sie allgemein erhältlich machen. Ein System, das sie verteilt, ohne die Wünsche der Konsumenten zu beachten, ist entwürdigend.«
Ich konnte mich eines peinlichen Gefühls nicht erwehren, als wir am nächsten Tag wieder in die Räume eindrangen und den Leuten die Plaketten mit sanfter Gewalt von den Handgelenken nahmen. Als sie merkten, was wir mit ihnen vorhatten, versuchten sie davonzulaufen oder sich zu verstecken, doch es nützte ihnen wenig – bald waren alle Plaketten in unserem Besitz.
Boyd schien sich der Peinlichkeit unseres Vorgehens bewußt zu sein, denn, ohne daß ihn jemand daraufhin angesprochen hätte, versuchte er uns auseinanderzusetzen, daß man das Volk zu seinem Glück zwingen müsse, wenn es selbst nichts dafür zu tun bereit sei. Man würde uns später dankbar sein.
Immerhin – nun hatten wir zum ersten Mal merklichen Erfolg bei unseren Aktionen. Die Leute hörten uns zu, sie folgten unseren Argumenten, sie schienen ihre Welt mit anderen Augen sehen zu lernen. Nuru buchte es als besonderen Erfolg, als eine Gruppe in Streit geriet und dabei einige Möbel zerbrochen wurden.
Es fiel uns nicht schwer, die Bewohner von ihrer »Arbeit« abzuhalten. Offenbar kamen sie erst jetzt darauf, daß diese mit unangenehmen Zuständen, mit Mühe und Erschöpfung, verbunden war. Natürlich rechneten wir mit irgendwelchen Gegenmaßnahmen der Regierung, aber es geschah nichts.
Es gelang uns allerdings auch nicht, die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu verändern, daß man sie als befriedigend bezeichnen könnte. Bei unseren Diskussionen stellte sich sogar heraus, daß wir uns über eine angemessene Gesellschaftsform nicht im klaren waren, doch vertrat Ingrid die Ansicht, daß dies nicht unsere Aufgabe sei – jeder müsse selbst zu einem solchen System finden.
»Ich glaube nicht, daß sie dazu fähig sind, solange sie in ihrem alten Milieu bleiben«, vermutete Boyd. »So existiert kein Anstoß zu irgendeiner Initiative.«
»Was ist die Konsequenz?« fragte Ingrid, und sie fuhr fort: »Wir müssen den Gebäudekomplex zerstören, diese Umgebung, die jede neue Idee zu ersticken droht. Wir müssen die Zugänge zu den Nahrungsmittelquellen öffnen und die Rohstoffe und Produktionsmittel in die Hand bekommen.«
»Wenn wir das tun«, rief Mischa, »dann brechen wir das Abkommen, das wir mit der Regierung getroffen haben. Wir werden als unerwünschte Personen ausgewiesen werden.«
»Glaubst du, daß sie dazu die Macht haben?« fragte Ingrid. »Traust du diesen Wesen eine so hohe technische Entwicklung zu, daß sie etwas gegen uns tun können? Zweifellos sind die eigentlichen Machthaber intelligenter als jene Leute, mit denen wir es bisher zu tun hatten. Aber ein wesentlicher Unterschied dürfte wohl kaum bestehen!«
Zum ersten Mal führte eines unserer Gespräche zu unüberbrückbaren Gegensätzen. Boyd und Ingrid vertraten die These, daß man die alte Ordnung zerstören müsse, um die neue Gesellschaft zu initiieren. Diesmal nützten ihnen aber alle Überredungskünste nichts, um die Mehrheit zu erlangen – wir alle, sogar Nuru, stimmten dagegen. Selbst wenn wir in der Meinung unserer Widerpartner einen wahren Kern fanden, so hielten wir es für unmöglich, Geschöpfe eines fremden körperlichen und geistigen Systems, das wir noch längst nicht durchschaut hatten, am Leben zu erhalten, wenn sie von ihren Nachschubquellen abgeschnitten waren.
Boyd aber fand einen Weg, um trotzdem seinen Willen durchzusetzen. Als wir am nächsten Tag mit unserem Gleiter über die Hügelkette hinwegsetzten, erwartete uns ein erschreckendes Bild: Anstatt des rosa schimmernden Gebäudes lag ein Haufen Asche in der Talmulde – seltsam kontrastierend mit dem farbenfrohen Park. Einzelne der in sich zusammengesunkenen Bauteile glühten noch, Rauchsäulen stiegen auf. Das Material hatte seine Transparenz verloren und war in den dunkelbraunen, undurchsichtigen Zustand übergegangen. Von den Einwohnern war nichts mehr zu sehen.
»Unser Streit ist entschieden«, sagte Boyd mit Triumph in der Stimme.
»Wie hast du das gemacht?« fragte ich.
»Ich habe gar nichts getan.« antwortete Boyd. »Ich habe ihnen nur ein Feuerzeug gegeben. Sie sind jetzt geistig reger geworden, haben Interesse an ihrer Umwelt; sind bereit zum Risiko. Feuer kannten sie offenbar nicht – es mußte sie außerordentlich interessieren.«
Wir alle blickten Boyd an, als sähen wir ihn zum ersten Mal, und sogar Ingrid erschien schockiert. Gestern noch hatte sie nüchtern und sachlich die Möglichkeit einer Zerstörung erwogen. Aber der Unterschied zwischen Theorie und Praxis traf sie tief. Selbst Boyd schien nicht so sicher zu sein, wie er sich gab.
Und dann drehten wir uns wie unter dem Eindruck eines unhörbaren Signals nach Mara um, die nachgekommen war und ein wenig hinter uns stand. Sie blickte hinunter ins Tal, ihr Gesicht war unbewegt. Sie erkannte nicht, was geschehen war, oder sie begriff es nicht …
Wir gingen hinunter, durch die blühenden Anlagen, bis zur Trümmerstätte. Teilweise war der Boden eingebrochen, und man blickte in die Tiefe hinunter. Wir sahen Leitungen, Röhrensysteme, mit Gittern umschlossene Apparaturen, dazwischen leeren Raum, Schwärze, einen bodenlosen Abgrund. Mischa warf einen Brocken Mauerwerk hinunter, wir horchten auf den Aufschlag … es blieb still.
»Das Innere dieses Planeten ist hohl«, sagte Mischa. »Die Messung des Gravitationsfeldes hätte mich darauf bringen müssen, aber ich habe es nicht zu glauben gewagt.«
»Heißt das, daß der Planet künstlich ist?«
Mischa zuckte die Achseln. »Es sieht ganz danach aus. Die Hülle besteht aus Kunststoff, den Blicken verborgen sind die zum Leben nötigen Maschinerien und Anlagen, für die Gravitation sorgt ein Kern von Superschwerer Materie. Vielleicht ist es ein künstliches Paradies.«
»Und wo sind die Einwohner geblieben?«
»Es ist gut, daß sie nicht mehr hier sind«, sagte Mischa. »Ich glaube, sie sind in Sicherheit.«
Wir wühlten einige Zeit in den Trümmern herum, gaben es aber bald auf. Hier gab es nichts mehr für uns zu tun, wir wandten uns um und gingen zum Luftkissenboot zurück. Mara kam mit – was hätten wir sonst mit ihr tun sollen? Als wir über den Kamm der Hügelkette schwebten, warfen wir einen letzten Blick zur Stätte der Verwüstung zurück. Ich glaube, wir schämten uns alle.
Wenige Minuten später kamen wir am Landeplatz an. Schon von weitem erschien uns etwas verändert – unser Raumschiff hatte seinen Standort gewechselt, das Landegerüst stand frei auf der Oberfläche, einige Meter von unserem ursprünglichen Standort entfernt. Als wir näher kamen, bemerkten wir einen dunklen Punkt am Fuß der Treppe – es war ein Mensch –, und als wir aus dem Gleiter stiegen und auf ihn zutraten, erkannten wir, daß es ein Kind war, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt.