»Ich möchte Sie einiges fragen«, sagte er.
»Gefallen Ihnen meine Lieder?« fragte sie. Sie brachte ihn ein wenig aus der Fassung.
»Ja, natürlich«, antwortete er.
Sie waren allein im Raum. Die Tür zum Nebenraum stand offen. Ein Stuhl knarrte. Saßen dort die Bewacher? Er stand rasch auf und blickte ins andere Zimmer. Eine alte Frau blickte erstaunt vom Strickzeug auf.
»Verzeihung!« sagte er.
»Was haben sie?« fragte Anda. Sie war neben ihn getreten. Er empfand ihre Nähe mit einem ungewohnten erregenden Gefühl – man mußte ihm eine besondere Sensibilität als Eigenart dieser Rasse einprogrammiert haben. Als sie seinen Blick sah, ging sie rasch zur Sitzbank zurück und sagte: »Sie sind seltsam. Was haben Sie? Setzen Sie sich!«
Lester folgte der Aufforderung. »Ich möchte einiges wissen – über Sie und Ihre Lieder.«
»Ich bin uninteressant«, antwortete Anda. »Eine Schülerin, die ein wenig singt. Meine Lieder – nun, es sind alte Melodien, Lieder über Liebe und Heimweh, über die Sehnsüchte einzelner Menschen. Sie sind schön, nicht wahr? Mein Bruder hat sie entdeckt, eine Handschrift in einer Bibliothek. Er studiert Musik.«
»Ihr Bruder hat sie entdeckt?« wiederholte Lester. Er überlegte. Dann beschloß er, alles auf eine Karte zu setzen. »Ich bin kein Journalist«, sagte er. »Ich bin Vertreter der Regierung. Wir haben Sie durchschaut. Ihre Lieder wiegeln die Massen auf. Sie sind das Zentrum der Revolution!«
Anda sah ihn groß an. »Das ist ein Scherz, nicht wahr?« sagte sie. »Oder wollen Sie sich interessant machen? Stellen Sie doch Ihre Fragen, oder lassen Sie mich zufrieden.«
»Wer steht hinter diesen Liedern? Wer sagt Ihnen, wann und wo Sie singen sollen? Von wem bekommen Sie ihre Befehle?« Lester hatte seine Stimme erhoben, und Anda sagte: »Seien Sie still, oder ich rufe Mutti!« Sie holte aus einem Fach des neben ihr stehenden Bücherregals ein kleines Heft, einen Umschlag und eine Schallplatte. »Das sind einige Unterlagen für die Presse«, sagte sie. »Im Umschlag sind Photos von mir. Die Schallplatte ist für Sie – zum Andenken. Aber jetzt gehen Sie bitte!«
Lester stand auf. Sie reichte ihm die Hand. »Aber warum singen Sie?« fragte er.
»Ich tue es gern. Die Lieder sind so schön und so traurig. Ich möchte sie am liebsten immerzu singen. Es ist nicht nötig, daß man mich dafür bezahlt. Ich freue mich, wenn ich die Menschen rühren kann. Sie alle mögen meine Lieder. Sie hören gern zu. Was müssen Sie für ein Mensch sein, wenn Sie das nicht verstehen!«
Lester war in die Regierungszentrale zurückgekehrt. Er federte leicht auf seinem Stuhl. Er ertappte sich dabei, daß er das nach einem bestimmten Rhythmus tat: Straße der Freiheit …
Die Schnarre erklang. Jonathan meldete sich. »Hast du dich schon erholt, Lester?«
»Wieso meinst du …?« fragte Lester.
»Ich bin nicht in deine private Sphäre eingedrungen – keine Angst! Aber es kann ja gar nicht anders sein: Du warst in einer Welt der Primitivität, des Chaos. Sie mußte dich verwirren. Du mußt die Eindrücke erst verarbeiten, deine Gedanken sammeln.«
»Das stimmt«, bestätigte Lester.
»Inzwischen sind die rationalen Gründe für die unerwartete Situation geklärt worden.«
»Das Mädchen ist schuld«, sagte Lester.
»Ja, das Mädchen! Sie hat die alten Lieder zu neuem Leben erweckt. Wir haben sie analysiert – es sind die Lieder eines unterdrückten Volkes. Lieder, in denen das, was sie eigentlich sagen sollten, nur versteckt zum Ausdruck kommt.«
»Freiheit«, meinte Lester.
»Freiheit? Nein – nicht Freiheit. Freiheit ist nur eine oft auftretende Vokabel. Freiheit läge ganz im Sinn der von uns induzierten Umschwünge. Wir haben das Begriffsfeld analysiert: Alle Worte stammen aus der semantischen Umgebung eines Begriffs, der selbst nirgends explizit auftritt. Kampf gegen die fremden Unterdrücker! Nicht Freiheit: Befreiung! Verstehst du jetzt, wie solche Lieder wirken: bedingte Reflexe, Assoziationen. Unbewußt, aber mit unfehlbarer Wirkung.«
»Und wir haben das noch unterstützt!«
»Ja, sie tauchten gerade auf, als wir die Stimmung der Bevölkerung durch Psychodrogen so beeinflußt hatten, daß sie auf jede Aufforderung zu politischer Aktivität zustimmend reagierte. Das war die Ursache der Aufstände.«
»Das war auch der Grund für Andas Erfolg«, sagte Lester, und er sah ihre kindlichen Züge wieder vor sich, empfand einen Anflug des Reizes, den sie ausstrahlte. »Es war also ein Fehler in der Organisation.«
»Es war kein Fehler!« Wie immer reagierte Jonathan heftig, wenn Lester die Perfektion des Systems in Frage stellte. »Die Organisation war perfekt. Die Berechnungen stimmten.«
»Die Möglichkeit, daß gerade zur Zeit der politischen Umorientierung totgeglaubte Parolen aus uralten Zeiten auftauchen könnten, war übersehen worden.«
»Nicht übersehen … Nur war ihre Wahrscheinlichkeit gering. Praktisch gleich null.«
»Theoretisch gleich null!« verbesserte Lester, und Jonathan verzichtete diesmal auf Widerspruch. »Ich habe eben eine Nachricht erhalten«, sagte er. »Der magnetische Ring um die Dunkelsonne Waldow VII ist leck geworden. Die Gravitonen laufen aus. Wir müssen sieben Distrikte evakuieren – darunter Coman und Wosterhaed.«
»Das wirft uns weit zurück«, sagte Lester.
»Wir werden damit fertig.«
»Es ist also wieder das Unerwartete des Ereignisses, das dich bedrückt.«
Jonathan bestätigte es.
»Soll ich bei Waldow VII nach der Ursache suchen?«
»Die Ursache ist bekannt – ein vagabundierendes Gravitationsfeld, eine Art Kugelblitz.«
»Was möchtest du also wissen?«
Jonathan zögerte mit der Antwort. Dann sagte er langsam: »Wir haben die Statistik jener Zufälle analysiert, die unsere Bemühungen immer wieder zuschanden machen. Die Resultate stimmen mit den Erwartungswerten überein. Was wir aber noch nicht wissen und wofür wir noch kein Kalkül haben, das ist das Eintreten des einzelnen Vorfalls. Warum singt das Mädchen auf Herrera Freiheitslieder? Warum verirrt sich ein Kugelblitz in unser Abschirmnetz? Warum geschieht das genau in jenen Augenblicken, in denen es uns am meisten stört?«
»Und die Antwort?« fragte Lester.
»Es gibt nur eine: Es steckt eine Absicht dahinter. Wir sind bereits verplant.«
»Wir sind bereits verplant?« fragte Lester erstaunt.
»Ja!« bekräftigte Jonathan. »Nur eine einzige Ursache kann einen perfekten Plan zunichte machen: ein anderer, übergeordneter Plan. Und darum«, er sprach, oder richtiger, er dachte seine Sätze wieder schneller, »darum brauchst du deine Recherchen nicht bei Waldow VII ansetzen, sondern gleich dort, von wo aus die Vorfälle gesteuert werden dürften – von Thor. Thor war das Haupt der einzigen Organisation, die der unseren ebenbürtig war. Wir haben sie nur deshalb in unser System einbezogen, weil wir dadurch seine Effektivität steigern konnten.«
Lester erinnerte sich an einige Einzelheiten des Vertrags. »Ihr Regierungssystem besteht noch. Ihr Computer arbeitet unabhängig von unserem. Sie verwalten zwei Millionen Distrikte.«
Jonathan bejahte, ohne Worte zu formulieren. Er fügte hinzu: »Es ist die einzige Stelle, die einen umfassenden Plan für eine Ordnung der Welt entwerfen kann. Sieh dich dort um. Offiziell kommst du als Gast unserer Vertretung. Sei vorsichtig! Außerhalb des extraterritorialen Gebiets können wir dich nicht schützen.«