»Ich reise sofort ab«, sagte Lester. Dann fiel ihm noch etwas ein: »Was ist mit Anda geschehen?«
Jonathans Antwort ließ ein wenig auf sich warten. »Sie singt nicht mehr«, antwortete er dann.
Thor ist eine Welt der Dunkelheit und der Kälte – der absoluten Dunkelheit und der absoluten Kälte: minus Z730. Keine einzige strahlenspendende Sonne liegt innerhalb dieser Wüste, kein radioaktiver Meteorit, der Wärme enthält und aussendet. Und doch gibt es Leben in dieser Region, Leben, das Ordnungen schafft und Bewußtsein entwickelt.
Es existiert auf einer viel tieferen Energieebene als das der organischen Lebewesen, und es ist nicht auf chemische Umsetzungen aufgebaut, sondern auf Nullpunktphänomene: Bewegung ohne Reibung, elektrische Schwingungen ohne Abstrahlung, Strom ohne Widerstand. Die umgesetzten Energiebewegungen sind winzig klein – nur wenige Quanten, und doch gibt es hier Organisation, Veränderung, Entwicklung. Staubkörner, aus nur winzigen Atomen aufgebaut, orientieren sich im Kraftfeld von Kristallen, Elektronenkreisel wechseln den Sinn ihres Umlaufs. Veränderungen rufen neue hervor, Beziehungen entstehen, Strukturen wachsen, werden umfassender, komplexer, reagieren auf äußere Einflüsse, aus dem Innern heraus gesteuert. Das Unausbleibliche vollzieht sich selbst hier, in dieser scheinbar sterilen Umgebung: Leben.
Die Kluft zwischen Wesenheiten so unterschiedlicher Energieebenen erschwert den Kontakt. Nullpunktwesen sind fragil, schon die Wärmeausstrahlung einer Mücke würde sie zerstören. Nicht einmal ihre Existenz hätte man bemerkt, wäre ihre Technik nicht über sie selbst hinausgewachsen, hätten sie nicht Wirkungen erzielen können, deren Energieumsatz den ihrer Metabolismen um ein Trilliardenfaches übertraf.
Inmitten jener Wolke aus Staub, aus der sich die Nullpunktwesen ständig erneuerten, schwebt der Zellenbau ihres Regierungsgebäudes – vielleicht ein Abbild ihrer elementaren, kristallinen Struktur. Und am Rand des Zellenbaus, über den Richtstrahl des Gravitonen-Lasers mit der lichterfüllten Welt verbunden, rotierte eine Kugel, durch dreifache Mauern nach außen abgeschirmt, ein Hort der Wärme und des Lichts, die Kapsel des Botschafters. Dort materialisierte sich, aus unvorstellbarer Ferne gesteuert, der Körper Lesters.
Der Botschafter war ein Wasserbewohner von Hektal, und sein Kontakt mit der Zentrale beschränkte sich normalerweise auf den Austausch von Formalitäten über die Bildschirme. Nur eine kleine Gruppe von Humanoiden befand sich unter seinem Personal, und von diesen hatte nur einer noch seinen ursprünglichen Zustand behalten: Moira, eine Frau von olivbrauner Hautfarbe und unbestimmter Abkunft, rothaarig, groß und kräftig – sie konnte noch hundert Jahre leben, ohne sich einspeichern lassen zu müssen. »Ich weiß nicht, was du vorhast«, sagte sie, »aber ich will dir helfen.« Sie war bei Lesters Reintegration dabei gewesen, und er genierte sich vor ihr.
»Ich habe nichts Besonderes vor«, antwortete er. »Es ist ein Höflichkeitsbesuch.« Aber sie lachte nur leise und tief. »Das wäre zu bedauern«, sagte sie.
»Warum?«
»Es gäbe hier einiges, was nicht uninteressant ist.«
»Was, beispielsweise?« fragte er.
Sie winkte ihm, ihr zu folgen. Sie bewegte sich mit erstaunlicher Sicherheit über das Gravitationsfeld, das in Kurven und gelegentlich die Ebene wechselnd durch den Bau führte. Sie fand dabei noch die Zeit, die Hüften zu wiegen. Obwohl seine Programmierung von Herrera längst aufgehoben war, erinnerte sie ihn an Anda. Er wußte nicht wieso, denn die beiden hatten nichts gemeinsam.
Sie gelangten in einen Raum, der ungewöhnlich eingerichtet war. Stereobilder schwebten umher, uralte Gegenstände hingen an den Wänden: ein Autoscheinwerfer, eine Balaleika, ein Buch. Persönliche Dinge standen herum, in einer Nische zischten die nach oben gerichteten Düsen eines Hovercraft-Betts. Eine Wand wurde von einer gekrümmten, mattglänzenden Scheibe gebildet, ein schmales Gravitationsband lief rund herum, so daß man an jede Stelle nahe herankommen konnte.
»Mein Zimmer«, sagte Moira, und wieder lachte sie, als sie Lesters Betroffenheit über diese Unverfrorenheit bemerkte, ihm Einblick in ihre Privatsphäre zu geben. »Nur hier bin ich ungestört«, erklärte sie. »Komm!« – sie trat an den Schirm und drückte einen Knopf. Es wurde dunkel im Raum, und gleichzeitig erhellte sich die gewölbte Kunststofffläche. Was darauf erschien, ließ sich am ehesten mit dem Himmel föhniger Tage vergleichen – Wolken vor einem violettblauen Hintergrund, in Flocken aufgeriffelt, sich an einigen Stellen verdichtend, an anderen wieder sehr dünn und kaum wahrnehmbar.
»Ein Bildwandler«, erklärte Moira. »Ein Blick in die Welt von Thor. Die kaum wahrnehmbaren Strahlungen gebündelt, verstärkt und in Licht umgesetzt. Ich habe ihn gebaut.«
»Warum?« fragte Lester. Er starrte fasziniert in dieses diffuse Gewirr von Nebel und Dunst.
Moira trat auf Lester zu und packte ihn am Unterarm.
»Ist denn das so schwer zu verstehn?« fragte sie heftig. »Das ist ein Gefängnis. Seit Jahren habe ich keinen Menschen mehr vor mir gehabt – körperlich und lebendig, meine ich. Meine Gefährten sind Schaltungen, was sie reden, bestimmen ein Programm und der Zufallsgenerator. Ich bin so einsam wie nie ein Mensch zuvor, abgetrennt von der Welt, von Mauern umgeben, Ich wollte ein Fenster besitzen – ich glaube, ein bescheidener Wunsch?!«
Lester trat zurück und streifte ihre Hand dabei ab. »Und was hast du entdeckt?«
»Du bist auch schon eine Schaltautomatik«, sagte Moira. Mit einer energischen Bewegung warf sie ihre flammende Mähne zurück. Sie griff nach der Schalttafel – der Ausschnitt verkleinerte sich, die Dinge dehnten sich aus.
»Na?« fragte sie.
Lester zuckte die Schultern.
Sie blickte hochmütig auf ihn herab, denn sie war ein wenig größer als er.
»Siehst du nicht? Dieser Punkt?«
Inmitten der verschwimmenden Wogen von Staub saß ein unwahrscheinlich heller Punkt, von einem tiefschwarzen Ring umgeben.
»Ein Fehler im Verstärkersystem?« fragte Lester.
Moira sah ihn noch immer an. Sie schwieg.
»Also kein Fehler«, sagte er. »Somit eine Quelle von intensivster Energie. Was ist es?«
»… dieser Welt unangemessen hoher Energie«, verbesserte Moira.
»Was ist es?« wiederholte Lester.
»Ich weiß es nicht. Aber es ist hier fehl am Platz. Es hat nichts zu suchen in dieser Welt. Es ist gefährlich für sie. Ich weiß nicht, was sie damit tun, aber für sie ist es so, als bewahrten wir eine Antimateriebombe in unserer Hauptstadt auf.«
»Eine Bombe?«
»Es ist natürlich keine Bombe«, sagte Moira. »Was es ist, weiß ich nicht. Aber eines ist sicher: Es liegt auf unserer Energieebene. Es hat etwas mit uns zu tun.« Sie stellte einen noch kleineren Ausschnitt ein, und jetzt war auch die Form zu erkennen – ein regelmäßiges Polyeder.
Vielleicht, dachte Lester, bin ich meinem Ziel schon näher gekommen, als ich hoffen durfte.
»Kann man die Vergrößerung nicht noch etwas steigern?« fragte er. Abrupt schaltete sie den Bildwandler aus und wandte sich um: »Nein, und es nützt auch nichts«, antwortete Moira, »das Gebilde ist undurchsichtig. Und nun wirst du dich wahrscheinlich ausruhen wollen.«
»Ja, das möchte ich gern. Auf Wiedersehen!« Er mußte daran denken, daß dieser formelhafte Gruß hier wirklich einmal stimmte – und er würde sie wiedersehen, ohne Zwischenschaltung eines Mediums, ohne Konverter, Bildwandler, Scannistoren.
In seinem Raum angekommen, setzte er sich mit der Regierungszentrale in Verbindung. Er ließ Jonathan rufen und wählte einen komplizierten Code, der das Gespräch zwar verlängerte, dafür aber kaum zu brechen war. Der Regierungschef stimmte mit ihm darüber überein, daß das von Moira entdeckte Objekt verdächtig war und untersucht werden mußte. Es war in keiner der Raumkarten verzeichnet.