»Was wird geschehen?« fragte Lester.
»Wir werden den von Thor verwalteten Teil der Welt in unsere Obhut übernehmen.«
»Wirst du die Ursache bekanntgeben?«
Jonathan verneinte. »Das würde Unruhe erzeugen, die den stationären Zustand unseres Systems gefährden könnte.«
»Nach den Regeln unserer Gesetzgebung wären wir aber dazu verpflichtet.«
»Gewiß. Aber soll ich den Regeln folgen und dadurch den Staat gefährden? Noch besitze ich die Freiheit der Entscheidung, und ich nütze sie. Es wäre unrecht, ein ethisches Prinzip zu vertreten, dessen Ziel es ist, die Summe aller Freiheit zu erhöhen – und von ihr keinen Gebrauch zu machen.«
Wie schon oft bereitete es Lester Schwierigkeiten, den Überlegungen dieses Mannes zu folgen, dem nicht nur der Inhalt sämtlicher zentralen Informationsspeicher des Weltalls zur Verfügung stand, sondern der auch noch einen Reichtum individueller Erfahrungen besaß, der ihn zur führenden Kraft dieses allumfassenden Staates prädestinierte.
»Ich habe wieder eine Sonderaufgabe für dich«, sagte Jonathan.
»Was soll ich tun?«
»Ich will zunächst zu erklären versuchen, warum du es tun sollst«, antwortete Jonathan. »Gehen wir vom Prinzip unseres Wirkens aus: Wir erstrebten eine Optimierung der Entfaltungsmöglichkeiten für alle Lebewesen, gleich welcher Art. Wie unsere Philosophen bewiesen haben, stehen wir damit in Einklang mit der Eigengesetzlichkeit der Welt – sind also gewissermaßen ihr Werkzeug. Unsere Mittel, um uns unserem Ziel näher zu bringen, sind Organisation und Planung. Selbstverständlich hat unsere Einflußsphäre Grenzen – Grenzen mehr technischer als regionaler Art. Hier setzt unsere Arbeit an: diese Grenzen sukzessive zu erweitern. Anders aber ist es innerhalb unseres durchplanten Raumes: Hier können wir kein Eingreifen unerfaßbarer Ereignisse dulden. Wir müssen also nach ihren Ursachen forschen.«
»Was soll ich tun?« fragte Lester wieder.
»Es klingt paradox: nach den Ursachen des Zufalls forschen. Die Ereignisse, die uns Kopfzerbrechen bereiten, fallen normalerweise in die Kategorie Zufall. Aber sie greifen unkontrollierbar in unsere Planung ein. Das Geschehen der letzten Wochen läßt Anzeichen einer übergeordneten Planungsstrategie erkennen, deren Sinn ich noch nicht durchschaue. Wer kontrolliert den Zufall? Wo ist die planende Instanz?«
Lester setzte die Reihe der Fragen fort: »Wir wissen noch wenig von ihr, nicht einmal, ob es sie gibt. Trotzdem müssen wir sie suchen. Und wo? Vielleicht hilft uns ein Analogiebeispiel weiter. Mit Mathematik kann man etwas über die Gesetze der Zahlen aussagen. Womit kann man über die Gesetze der Mathematik selbst sprechen? Jedenfalls nicht mit ihrem Formalismus selbst. Man braucht dazu eine Metamathematik.«
»Und womit spricht man über Metamathematik?«
»Es gibt auch einen Formalismus, der dafür geeignet ist.«
»Und wie lautet der Schluß, der uns weiterhilft?«
»Ganz einfach: Der Zufall liegt außerhalb unserer Naturgesetzlichkeit. Die Instanz, die ihn manipuliert, ist daher außerhalb des Raumes dieser Naturgesetze zu suchen.«
Außerhalb des Raumes der Naturgesetze … sann Lester. Wo ist das? Was geschah dort mit ihm – was war er dort?
»Ich kann es dir nicht befehlen«, sagte Jonathan. »Ich bin dazu nicht berechtigt – nicht als Regierungschef und nicht als Freund.« Wirklich – er verwendete das alte Wort Freund. »Schon damit, daß ich es dulde, überschreite ich meine Befugnis. Und doch: Ich bitte dich – versuche es!«
Lester hatte seinen Stuhl an das große Fenster gerückt. Er blickte hinaus – hinaus in den Riemannschen Raum mit seinen Myriaden Sternen, die ihn krümmten, zwangen, in sich selbst zurückzukehren. Ein Raum, der keine Grenzen hatte und doch umgrenzt war, Raum einer komplizierten Geometrie und doch etwas sehr Einfaches: Gefäß all dessen, was ihm etwas bedeutete. Was war außerhalb des Raumes und der Zeit, außerhalb der vertrauten Erscheinungen, deren Eigenschaften diese waren? Was erwartete ihn dort? Vernichtung, oder ungeahnter Reichtum an unvorstellbaren Wesenheiten?
»Wie soll ich dorthin kommen: in den Raum außerhalb des Raums?«
»Wird er durch die Gravitation geschaffen, so kann er durch sie auch verändert werden. Es gibt Massenverteilungen, die ihn zu einem Punkt zusammenziehen, und solche, die ihn aufklappen wie einen Fächer. Seit wir die Gravitation beherrschen, müßte es auch möglich sein, singuläre Flächen im Raum zu erzeugen – sie sind das Tor in die jenseitige Welt. Der dazu nötige Energieaufwand ist allerdings ungeheuer groß – noch nie wurde in einem begrenzten Raum-Zeit-Intervall eine annähernd gleiche Menge konzentriert, aber ich habe die Mittel, sie zusammenzubringen. Willst du es tun, Lester?«
Lester überlegte nicht mehr. Er stimmte zu.
»Dann lasse ich dich sofort duplizieren – in der Gegend der Hoyle-Ansammlung schwerer Sonnen ist alles vorbereitet. Leb wohl!«
Lester hörte nicht, daß Jonathan noch weiter sprach: »Warum müssen es immer wieder wir Menschen sein, auf denen solche Fragen lasten?«
Lester materialisierte als Komplex von Wirbelfäden aus den Feldstärken der starken Wechselwirkungen. Er befand sich in einem Mahlstrom aus sich verdichtenden Kräften. Die Eindrücke waren kaum beschreibbar – nicht einmal in den sonst üblichen adäquaten Codierungen. Er schwamm in einem Block von körperlich verdichtetem Schwarz, der Raum um ihn schloß sich, die Verbindung nach außen riß ab, alle Eindrücke wurden zu Spiegelungen. Er merkte, ohne es beschreiben zu können, wie sich das Gefüge des Raum-Zeit-Kontinuums veränderte; die Krümmung gegen den Bezugspunkt in der vierten räumlichen Dimension fiel wie rasend zusammen, und alles Gegenständliche im Inneren schieferte sich in Schichten ab, streckte sich, knickte ein, schwoll und schwand. Und dann−
»Was hast du gesehen«, fragte Jonathan. Lester lächelte. »Gesehen? Nichts.«
»Nun – vielleicht nicht gesehen. Aber erfahren? Was geschieht dort?«
»Es tut mir leid«, antwortete Lester. »Ich kann es nicht sagen. Es gibt keine Bilder, keine Worte, keine Formeln … es gibt keine Möglichkeit … keine.«
Metaphysik, dachte Jonathan. Die Katze, die sich in den Schwanz beißt. Der Formalismus genügt nicht für Aussagen über den Formalismus.
»Dann hatte deine … Reise keinen Sinn?«
»Doch«, antwortete Lester. »Ich kann dir einiges andeuten. Ich hoffe, daß es dir die Antwort gibt, die du dir erhoffst. Und es bestätigt vieles von dem, was wir bisher getan haben und noch tun wollen. Es fällt mir schwer, es in einen großen Zusammenhang zu bringen. Ich will es in einzelnen Sätzen sagen, so wie sie sich mir reproduzieren: Vor allem: Die Optimierung der Entfaltungsmöglichkeiten ist die Aufgabe dieser Welt. Sie ist das Ziel des Plans, dem sie folgt. Die Störung des Systems ist ein Mittel der Planungsstrategie. Der Zufall bleibt Zufall, niemand lenkt ihn, aber er verhindert Erstarrung, Leerlauf, Sackgassen. Unser Ziel, ›Entfaltung‹, wird dadurch besser angesteuert, als wir es tun können.«
»Sollen wir dann noch weiterregieren?« fragte Jonathan kaum vernehmbar.
»Wir sind selbst eingeplant, wie immer wir uns verhalten – es kann nie falsch sein.«
»Und die planende Instanz?«
»Die planende Instanz?« Lester quälte sich, das Unsagbare auszudrücken. »Die planende Instanz? Mathematik, Metaphysik, Metalogik … nein, es ist sinnlos. Was ich sagen konnte, habe ich gesagt.«
»Ich danke dir«, sagte Jonathan.
Die Verbindung war noch nicht abgebrochen, da zerriß eine laute Stimme die Nachdenklichkeit der Stunde.
»Hier spricht das Komitee des Ministerrats. Eure Unterredung wurde überwacht. Sie erbringt den letzten Beweis in einer Kette von Verfehlungen, deren sich die Regierung schuldig gemacht hat. Insbesondere die Informationspflicht wurde vernachlässigt. Die Maßnahmen wurden getroffen – ohne Unterrichtung und Zustimmung des Ministerrats. Die Kompetenzen wurden überschritten. Jonathan A1 wird hiermit seines Postens als Vorsitzender enthoben. Die neue Regierung konsolidiert sich in einer Stunde.« Die Stimme hallte nach, klang aus.