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»Was können wir schon tun?« fragte ein niedlicher Stoffhund mit langen Schlappohren. »Wir sind klein und schwach.«

»Aber wir sind in der Überzahl«, antwortete Nicki. »Auf jedes Kind kommen mindestens zehn Puppen. Wenn wir einig sind …«

»Was nützt die Überzahl?« Die quäkende Stimme des Hundes klang noch trauriger als sonst. »Wir sind ungeschickt. Wir haben keine Finger – nur plumpe Pfoten, die nicht einmal zum Laufen taugen …«

»Aber ich habe geschickte Finger«, rief ein Negerpüppchen in einem bunten Bastrock.

Durch eine Bewegung seines mit Kunstfell bespannten Arms unterbrach Nicki die Diskussion. »Wir brauchen gar nichts Besonderes zu unternehmen«, sagte er. »Es genügt, wenn wir den Anordnungen nicht mehr folgen, nichts mehr für sie tun. Wir müssen uns einig sein – es allen andern sagen. Wir geben ihnen nichts mehr zu essen, wir kümmern uns nicht mehr um ihre Sicherheit.«

»Ja«, schnappte der Hund aufgeregt. »Wir laufen nicht mehr zum Feuermelder, wenn sie mit Zündhölzern spielen. Wir lassen sie an die Küchenmaschinen der Mütter heran und an die Sportautos der Väter. Wir gehen aus den Häusern und lassen sie allein.«

Das dunkelhäutige Püppchen vergoß einige Glycerintränen: »Das werden sie sich nicht gefallen lassen. Sie können so grausam sein!«

»Wir haben keine Furcht«, antwortete Nicki, »und wir spüren keinen Schmerz.«

Ronnie hatte sich ein neues Spiel ausgedacht. Die Puppen hatten ihm die Gummimatratze aus seinem Bett auf den Spielplatz bringen müssen. Bäuchlings lag er darauf, das Kleinkalibergewehr in Anschlag. Und draußen, vor der Mauer, mußten sie vorbeigehen, -laufen oder -springen: die Hunde und Katzen, Pferde und Esel, Löwen und Leoparden, die vielen anderen Tiere aus dem Reich der Natur und der Phantasie, die Teddybären. Clowns und Puppen. Die anderen Buben standen rundherum, die Mädchen sahen neidisch aus der Ferne zu; und Ronnie löste Schuß auf Schuß. Stoffetzen und Haarbüschel flogen, Arme und Beine wurden abgefetzt. Beifall klang auf.

»Laß mich mal!«

»Nein, mich!«

»Ach was – ich hole mir meine eigene Maschinenpistole!«

Ronnie gab das Gewehr nicht aus der Hand. Er wartete, bis der letzte vorbeikam: Nicki – ein gutes Ziel! Nicki stand bereit.

»Los, Nicki!«

Der Teddybär zögerte.

»Vorwärts!« schrie Ronnie. »Vorwärts, ich befehle es dir. Du mußt mir gehorchen. Geh endlich los!«

Mit seinem typischen humpelnden Gang lief Nicki vorwärts, und Ronnie traf ihn in den Bauch. Das Laufwerk funktionierte noch, und Nicki lief weiter. Erst die nächste Kugel riß ihn um. Ronnie schoß jetzt wie in Trance, Kugel um Kugel schlug in den rundlichen Leib des Teddybären. Dann ging der Junge hin, um sich das Ergebnis anzuschauen. Nicki lag am Boden, ein Arm samt der Schulter war abgerissen. Ein paar buntisolierte Drähte quollen aus der Höhlung.

Ronnie sah sich triumphierend um. Die Kinder bewunderten ihn. Er stemmte den Kolben auf den Boden und stützte sich auf den Lauf. Da hörte er ein Geräusch vom Boden: »Ronnie, Chef!«

Er bückte sich: »Was ist?«

Der Körper Nickis zuckte unkontrolliert, aber er konnte noch sprechen. Es klang heiser: »Warum schießt du nicht auf Peggy?«

Ronnie stand geduckt, und jetzt blickte er auf. Drüben am anderen Ende der Mauer lehnte Peggy – ein blondes Mädchen, so alt wie er. Ihr Körper zeichnete sich deutlich gegen den weißen Hintergrund ab. Nicki hob das Gewehr.

Die Puppen strömten aus den Häusern des Kinderdorfs. Manchmal waren es Dutzende, die aus den grüngestrichenen Türen und Fenstern kamen. Am grüngezäunten Mittelweg trafen sie sich, bildeten eine hüpfende und krabbelnde Masse. Sie hielten erst am Damm des Schwimmbassins, kletterten hinauf. Sie setzten sich und blickten über das ebene Gelände mit seinen kleinen Häusern, den Spielfeldern, Grasmatten, den schmalen Wegen, Blumenbeeten. Kinder duckten sich hinter den Spielmaschinen, sprangen auf, stürmten vor, warfen sich hin oder fielen.

Es hatte begonnen.

Die Gesichter der Puppen waren starr. Sie hatten keinen Grund mehr, komische Gesichter zu ziehen.

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Mutation

Dr. Carry schob die Mappe beiseite und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Sein Arbeitstisch stand direkt an der Wand aus violett getöntem Glas, durch das er weit ins Land blickte – links das Rechteckmuster aus Flachbauten, silber, gelb und grau; rechts die Flecken aus Buschwerk, sandiger Erde, vertrocknetem Gras, hier und da ein Streifen glattgetretener Erde, vielleicht ein Weg, vielleicht ein Versammlungsplatz; dazwischen das Gitter, ein mattschimmernder Strich, der harmlos aussah, aber die Sperre reichte bis in den Dunst der Atmosphäre. Der Chefgenetiker seufzte. An diesem Bild wurde ihm seine Aufgabe immer wieder deutlich – analysieren, begutachten, urteilen, selektieren. Es war eine Aufgabe, die den Maschinen noch nicht übertragen werden konnte, und niemand wußte so gut wie Carry warum: weil die Methoden nicht ausreichten, weil es keinen Maßstab zur Bewertung gab, weil die Gesichtspunkte, nach denen ausgeschieden wurde oder auch sanktioniert, schwer formalisierbar waren. Was war normal, was entartet? Was war gesund, was war krank?

Ein Schnarren aus der Videoanlage. Kanal 1, internes System. Carry ließ den Sessel nach vorn kippen und drückte noch während des Aufsetzens die Taste. Auf dem Schirm erschien das Gesicht Dr. Mankowskis, seines Assistenten und Mitarbeiters.

»Was gibt’s?«

»Die Zulassungsbescheide stehen aus. Die vom Labor werden allmählich ungeduldig. Der Termin ist lang überzogen.«

Dr. Carry angelte einen Ordner herbei und blätterte darin. Zulassung einer Mutation mit verstärkter Hautdurchblutung für die Antarktis. Zulassung einer Mutation mit einem Schallotungssystem für neuentdeckte Systeme von Riesenhöhlen … Sie hatten schon den Kiemen- und Flossenmenschen, den gliedmaßenlosen Raumfahrer, das Organisations-Supergehirn – war das nicht genug? Sie legten peinlichen Wert auf die Erbgesundheit, schieden jede Abweichung aus und ließen doch immer wieder neue Monstren zu …

»Ich werde es mir überlegen«, sagte er, und ohne auf das erstaunte Gesicht Mankowskis zu achten, schaltete er aus. Entschlossen schlug er seine Mappe wieder auf. Vor ihm lag eine Genkarte, und es gab keinen Zweifel – der neue Dekodierungsautomat arbeitete genauer als die alte Anlage. Seit sie mit der neuen Reihenuntersuchung begonnen hatten, und sie war längst noch nicht zu Ende, hatten sie x6 Fälle der Mutante GN 3 festgestellt, eine Veränderung im zweiundzwanzigsten Chromosom, ein winziger Fehler in der genetischen Schrift, nur schwer feststellbar und in seiner Konsequenz ungeklärt. Aber es war eine Abweichung von der Norm, daran war nichts zu rütteln.

Dr. Carry drückte einige Tasten und wartete. Dann spie das Rohrpostsystem eine Rolle aus. Er öffnete sie, eine Magnetkarte glitt heraus. Ein Schriftzug: Sandra Jeanjacou. Ein Bild: das schmale Gesicht eines Mädchens, große Augen, glattes braunes Haar. Carry nahm den Magnetgriffel und strich einige Male rasch über das Feld Lizenzen. Damit war alles gelöscht, was ein Bürger dieses Staates an Rechten besaß – die Versorgung, die gesundheitliche Betreuung, der Aufenthalt im klimatisierten Bereich. Er tippte eine Begründung ein, rollte die Karte zusammen, steckte sie in die Öffnung der Rohrpostanlage. Ein saugendes Geräusch, ein Schnappen … es war geschehen. Unwillkürlich hatte er die Hand gehoben, aber der Ablauf ließ sich nicht aufhalten. Die Anweisung würde in die Registratur gehen, an die Zulassungsstelle, an die Abteilung für »psychologische Betreuung«. Von dort wurde der blaue Brief verschickt; individuell abgefaßt – höflich und bedauernd. Die Bildschirme würden angestellt sein – denn der Betroffene besaß keine Intimsphäre mehr – ein Arzt stand bereit … es würde zu keinen Kurzschlußreaktionen kommen.