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Dr. Carry hatte ein flaues Gefühl im Magen. Daß es gerade Sandra sein mußte! Wie er hatte sie sich freiwillig zum Einsatz gemeldet – und wer tat das schon, wenn man sein Leben hindurch faulenzen durfte. Zwei Jahre hatten sie unten in der Analyseabteilung gearbeitet, er hatte oft mit ihr zu tun gehabt. Sie sprachen nicht viel miteinander, denn sie verstanden sich ohne Worte. Er hatte in ihr eine Unruhe gespürt, die ihm selbst nicht fremd war. Es war eine Art Unzufriedenheit, das Gefühl, irgend etwas tun zu müssen, auszubrechen aus dem schläfrigen Trott der von Automaten betreuten Gemeinschaft, ein schicksalerfülltes Leben zu leben, sich Wind um die Ohren wehen zu lassen, Regen auf der Haut zu spüren …

Wieder unterbrach das Videophon seine Gedanken, diesmal die externe Leitung. Automatisch schaltete er ein, dabei starrte er hinüber, in das Reservat. Ein unheimliches Stück Land, riesengroß, und undurchschaubar, drohend und faszinierend zugleich. Keiner von ihnen hatte es betreten, und wer es betrat, kam nicht wieder zurück … Auf dem Bildschirm erschien Kitty-Anne, seine Frau, die ihm der Computer nach psychologischen und genetischen Gesichtspunkten zugewiesen hatte. »Hallo Liebling, ich bin mit den Kindern im Autodrom, Patty ist wieder schrecklich unartig … Du, ich habe vergessen, die Tips der neuen Totoserie abzugeben. Könntest du es besorgen. Liebling? Aber vergiß bitte nicht …«

Kitty-Anne sah blendend aus, sie hatte die Iris türkis gefärbt, was gut zu ihrem gelben Anzug paßte. Carry sagte es ihr und atmete erleichtert auf, als der Bildschirm wieder dunkel wurde. Er versuchte sich zu konzentrieren. Es gab heute noch viel zu tun.

Einige Minuten später schreckte ihn ein Geräusch an der Tür auf. Mankowski trat ein – was ungewöhnlich war. Peinlich berührt drehte sich Carry um. Sein Assistent schwenkte ein Stück Papier und knallte es vor Carry auf den Tisch.

»Das ist eine Infamie!« Carry blickte kurz darauf; es war eine Ablichtung von Sandras Entlassungspapieren. »Sie wissen doch genausogut wie wir alle, daß die Bedeutung der Abweichung GN 3 noch ungeklärt ist.«

Carry zog die Augenbrauen hoch. Er zwang sich zur Ruhe. »Das ist es ja eben. Wir müssen den Genpool reinhalten. Das gilt noch mehr, wenn wir nicht wissen, um welche Eigenschaft es sich handelt. Also was soll’s?«

Mankowski trat noch näher an Carry heran. »Sie sind doch sonst nicht so penibel.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Wollen Sie vielleicht behaupten, Sie kennen Ihren eigenen Befund nicht?«

Carry saß einen Moment lang erstarrt, dann tastete er eine Speicheradresse ein. Unmittelbar darauf lief die Xerographierolle aus dem Schlitz, und Carry riß den Streifen entlang der Abschlußperforation hastig ab.

Sein eigenes Genmuster, frisch aus der neuen Anlage. Links oben die Mikroaufnahme, rechts oben die längs einer Linie aufgefädelte Chromosomenreihe, links unten das Molekülschema, rechts unten die Code-Tabelle mit dem rot ausgedruckten Abschnitt. Darunter stand sein Name. Es gab keinen Zweifel – GN 3.

»Das wußte ich nicht«, flüsterte Carry.

»Die ganze Abteilung weiß es«, sagte Mankowski. »Und Sie wollen behaupten, Sie wußten es nicht? Ich spreche auch im Namen der andern: Wir fordern, daß Sie Sandras Ausweisung rückgängig machen.«

Carry schaute dem andern einige Sekunden starr ins Gesicht. Dann sagte er: »Gehen Sie bitte, ich bringe die Sache in Ordnung.«

Als sich die Tür hinter Mankowski geschlossen hatte, dachte Carry kurz nach. Er überlegte, was es unter diesen Umständen zu tun gab. Einige Anweisungen geben, die persönlichen Dinge zusammenpacken, Kitty-Anne anrufen? Er wischte all das beiseite und betätigte statt dessen die Ruftaste des internen Systems. Zuerst die Wache am Übergang – noch keine Eintragung. Dann der Arbeitsplatz, die Registratur, die Abmeldung … schon vermerkt. Blieb noch die Passage zwischen der Endkontrolle und dem Übergang … dort fand er sie. Der Bildschirm zeigte sie mager und verzerrt. Sie hatte einen kleinen Koffer in der Hand und ging nicht schnell, aber auch nicht besonders langsam voran. Rasch zog er das Mikrophon heran und rief: »Warten Sie, Sandra! Hier Carry! Warten Sie – ich komme mit!«

Er blickte sich in seinem Büro um, und plötzlich stellte er mit Erleichterung fest, daß es nichts gab, was er mitnehmen wollte. Er stand auf, wandte sich zur Tür und verließ den Raum – eilig, als gäbe es etwas zu versäumen.

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Die Enklaven

In Gruppen standen sie vor den Kunstglaswänden und blickten hindurch. Sie mußten blinzeln, denn der Innenraum war mit grellem Licht erfüllt – es kam von den Weißlichtstrahlern, die ein regelmäßiges Punktnetz an der Decke bildeten. Die unangenehme Helle lag wie Staub über der Landschaft, die man drinnen aufgebaut hatte und pflegte: Steinwege führten zwischen Gras und Blumen hindurch, dazwischen stand gelegentlich ein Busch oder ein Baum – aber so, daß er die Sicht nicht verdeckte. Da und dort sah man seltsame, behaarte, vierbeinige Tiere; sie kauerten am Boden oder liefen müde die Glaswand entlang. Am unheimlichsten aber waren doch die eigentlichen Bewohner der Anlagen: menschliche Geschöpfe mit blasser, weißlicher Haut, weit geöffneten Augen und Nasenlöchern, schlanken, zerbrechlichen Händen. Sie trugen dieselben Kleider wie die Besucher außerhalb der Wände, aber es sah unpassend aus, ja obszön.

»Sind das wirklich Menschen wie wir?« fragte ein kleines Mädchen und klammerte sich an den Ärmel des Vaters.

»Es stimmt – es sind Menschen. Oder vielmehr: Sie waren es. Sie stammen von denselben Urahnen ab wie wir. Früher waren wir ihnen ähnlicher, es hat viele Generationen gedauert, bis die Unterschiede so groß wurden. Eigentlich weiß niemand, wieso es dazu kam.«

Sie schwiegen wieder und starrten hinein. Manchmal kam eine dieser Karikaturen eines Menschen von der anderen Seite an die Glaswand heran und blickte ihnen ins Gesicht … die draußen Stehenden traten unwillkürlich einen Schritt zurück. Diese Gesichter waren schwer zu beschreiben – menschlich und doch anders. Die Haut sah verletzlich aus, durchsichtig. Man sah das Weiße in den Augäpfeln. Waren sie intelligent? Waren sie gefährlich?

Das Mädchen versteckte sich hinter den Eltern. Es kam erst wieder hervor, als sich keines der unheimlichen Geschöpfe mehr in der Nähe befand.

»Warum sperrt man sie ein? Was geschieht, wenn sie ausbrechen?«

»Sie können nicht ausbrechen«, erklärte der Vater. »Sie atmen eine andere Luft, was sie essen, muß künstlich gereinigt werden. Alles, was sie brauchen, wird sterilisiert; man reicht es ihnen durch luftdichte Schleusen. Nur im Innern sind sie lebensfähig. Außen würden sie umkommen.«

Eine Bewegung ging durch die Gaffenden: Ein ganzes Rudel der fremdartigen Geschöpfe lief durch das Gehege und verschwand in einem der Gebäude, die man für sie gebaut hatte. Sie waren so eng eingerichtet, daß sich ihre Bewohner nicht dauernd darin aufhalten konnten; und doch versuchten sie sich oft lange Zeit hindurch in irgendwelchen Winkeln zu verkriechen – und sich den Blicken der Besucher zu entziehen.

»Kommt, gehen wir! Es ist kein angenehmer Anblick!«

Der Vater zog das Kind mit sich. Noch im Gehen blickte es ins Gehege zurück – hinter einem Busch, halb versteckt, stand ein Junge und zog ihm eine Fratze.

400 Jahre früher

Nun ist eingetreten, was man seit Generationen befürchtet hatte. Die immer wieder erneuerten Verträge, die strengen Verordnungen, die Zusatzklauseln, die strikte Abgrenzung, ja selbst die angedrohten Sanktionen – das alles ist jetzt wertlos. Polizei, Militär und Schutztruppen haben nichts mehr zu bestellen. Ein paar geöffnete Luken, und die Luft würde verpestet sein. Einige niedergerissene Dämme, und das Wasser wäre für immer verdorben. Ob Freiwilliger oder Dienstpflichtiger, wer wollte sich gegen einen Feind wehren, dessen Unempfindlichkeit ihn besser schützte als ein hermetisch abgeschlossener Panzer?