Pia Katharina hatte es übersehen, und ein kalter Ärger durchflutete sie. Jeder wußte, daß sie die Listen nicht durchsah. Sie gehörte nicht zu jenen, die jeden Freitagnachmittag ihre Nasen an die Scheiben drückten, um ja nicht zu versäumen, was im Testraum vor sich ging. Und jetzt hatte es Regine erwischt …
»Aber nein«, sagte sie. »Ich hatte es nur vergessen. Fangt inzwischen an – ich komme später nach.« Sie lächelte, als sie das Videophon abschaltete – doch sie glaubte keinen Moment, daß sie Esther täuschen konnte. Es ging auch nicht um Esther, sondern um die Kontrolle. Sie wußte nicht, ob die Analysatoren eingeschaltet waren, und das geringste Zeichen von Ärger hätten sie als Zeichen aggressiver Gefühle registriert.
Am liebsten wäre sie sofort hinübergelaufen, doch sie zwang sich zur Ruhe. In nahezu 40 Jahren, die sie dem Staat als Koordinatorin gedient hatte, hatte sie es gelernt, sich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen. Sie tippte einige Codeworte in die Tastatur des Eingabeschreibers und rief die Personalakte Regines ab. Auf dem Leuchtschirm erschienen die Worte »Bitte warten«. Mit Genugtuung stellte sie fest, daß ihr Herz nicht schneller schlug als sonst, obwohl sie wußte, daß es jetzt hart auf hart ging. Wenn Esther es wagte, ihre Hand nach Regine auszustrecken, dann mußte sich das Sicherheitskorps sehr mächtig fühlen! Pia Katharina hörte eine Stimme in ihrem Inneren: Du hast doch selbst darauf bestanden, daß niemand, kein Angehöriger der Koordinationsleitung, nicht einmal du selbst, von der Überwachung ausgenommen wird. Damit hast du den andern die Waffen in die Hand gegeben, mit denen sie dich jetzt angreifen. Du hast kurzsichtig gehandelt, sinnwidrig … Doch sie unterdrückte das Geflüster, das von einer Fremden zu kommen schien, mit der sie nichts zu tun hatte, und sie gab sich selbst die Antwort: Nur so war es möglich, jede Art von Mißbrauch für alle Zeit auszuschalten – dafür zu sorgen, daß sich nichts von dem wiederholte, was früher in der Welt der Männer an der Tagesordnung war: Eigennutz, Unterdrückung. Machtkämpfe …
Auf dem Bildschirm erschienen Schriftzeilen, wanderten langsam nach oben.
Regine Cesarello / freigegeben: 17. 6. 2081 / Monaco
Zertifikat Nr. 228730032
Mutter: Heliane Cesarello / geb. …
Nervös drückte Pia Katharina die Vorlauftaste, die Schrift glitt nach oben weg, doch als die jüngsten Eintragungen an die Reihe kamen, von denen sie sich Anhaltspunkte für die überraschende Situation erhoffte, die jetzt in ein akutes Stadium getreten war, erschien die Anmerkung:
Im offenen Register gelöscht – Verschlußmaterial / Beschränkung 4A.
Pia Katharina seufzte. Das hätte sie sich denken können. Natürlich hatte sie Zutritt zu den geheimgehaltenen Akten, doch dazu waren – selbst für sie! – Formalitäten erforderlich, und das kostete Zeit.
Sie blickte auf die Uhr. Erst fünf Minuten seit dem Anruf. Konnte sie schon gehen, ohne ihr Gesicht zu verlieren? Plötzlich war es ihr gleichgültig.
bin in Abt. Aggressionstest
tippte sie in den Speicherschreiber. Dann stand sie entschlossen auf und eilte zum Lift. Leise trat sie in die Halle, und doch war es nicht zu vermeiden, daß sich ihr alle Blicke zuwandten. Die Tribüne war voll besetzt, hinter den Scheiben waren die Gesichter nur verschwommen zu erkennen. Das Psychologenteam war so zusammengesetzt, wie sie es erwartet hatte – alle Vertrauten Esthers waren versammelt, Esther selbst führte den Vorsitz. Im Glaskäfig, den sie die Arena nannten, saß Regine. Sie sah noch jünger und zerbrechlicher aus als sonst. An ihren Schläfen waren zwei Stellen kahlrasiert, darüber lagen die aufgeklebten Kontaktplatten. Dünne Drähte, kaum sichtbar, liefen zu einem Steckpult an der Decke. Von innen her gab es keine Sicht nach außen – das Glas war mit Platin beschichtet und schloß die Arena mit Spiegelflächen ein.
Esther deutete auf einen freien Stuhl in der vordersten Reihe, und Pia Katharina setzte sich. Der Test befand sich noch in seiner ersten Phase – eigentlich ein Vorversuch: Man hatte Regine mit Gibbons zusammengesperrt, Jungtieren, die vorher durch Adrenalininjektionen reizbar gemacht und durch Licht und Lärm in Aufregung versetzt worden waren. Sie jagten im Käfig herum, sprangen auf Regine hinauf, zerfetzten ihre Kleider, kratzten und rissen an ihren Haaren.
Der Grundgedanke war einfach: Kein normales Wesen kann gegen junge Geschöpfe Aggression entwickeln; stellt man trotzdem Anzeichen dafür fest, so ist das Beweis genug, daß die Betreffende entartet ist und außerhalb der Gemeinschaft steht. Sie muß durch Psychopharmaka entpersonifiziert und in ein Arbeitslager gesteckt werden. Selbstverständlich entzog man ihr die Erlaubnis der Mutterschaft – sie durfte keine Zellen zur Selbstbefruchtung einreichen.
Die Gibbons setzten Regine gehörig zu. Dieser Stamm war besonders bösartig, und man hatte die Eigenschaft durch züchterische Eingriffe systematisch verstärkt. Trotzdem war Pia Katharina sicher, daß Regine den Test bestehen würde. Regine war nicht entartet, das wußte die Koordinatorin genau. Es mußte sich um einen Irrtum handeln – etwas anderes war nicht möglich –, und in wenigen Minuten würde Regine rehabilitiert sein. So versuchte es sich Pia Katharina einzureden, aber ihre Unruhe blieb.
Die grüne Linie auf dem Rasterschirm des Differential-Enzephalographen wellte sich und hüpfte. Die Neuropsychologin, die davor saß, runzelte die Stirn und tastete einige Daten in den Speicherschreiber. Pia Katharina konnte die Diagramme nicht deuten und versuchte die Resultate statt dessen aus den Zügen der Neuropsychologin abzulesen, aber auch das war vergeblich. Sie wandte sich wieder Regine zu und stellte aufatmend fest, wie beherrscht diese blieb. Keine hastige Bewegung, kein Anflug von Gewalt – mit ruhiger Sicherheit hob sie die Tiere, die sie besonders stark attackierten, auf und setzte sie sanft zu Boden.
Als die Schaltuhr das Signal zur Beendigung gab, kamen Wärterinnen mit Netzen herein, fingen die Tiere ein, brachten sie hinaus. Regine blieb in der Arena. Sie tupfte mit einem Taschentuch über ihre Stirn, verhielt sich aber sonst still.
Pia Katharina stand auf und sagte: »Zweifellos hat sie bestanden. Damit dürfte alles geklärt sein.« Esther blickte sie ausdruckslos an: »Noch einen Augenblick.« Sie stand bei den Psychologinnen, die sich vor dem Wiedergabegerät drängten und die interessantesten Phasen des Prozesses verlangsamt ablaufen ließen. Die Frauen tuschelten. Dann kam Esther zu Pia Katharina. Sie hielt einen Xerox-Streifen in der Hand. »Leider«, sagte sie. »Da gibt es noch einige Peaks.« Sie zeigte mit dem Finger auf die betreffenden Abschnitte. »Sie sind zumindest auffällig. Wir müssen weitermachen.«
Pia Katharina drehte sich abrupt um und setzte sich. Jetzt war sie nicht mehr sicher, ob Regine noch zu helfen war. Sie hätte es gern getan – nicht nur des Prestiges halber; Regine war eine ihrer engsten Mitarbeiterinnen, und sie hatte sie selbst ausgewählt. Aber sie empfand mehr für Regine – etwas Mütterlich-Freundschaftliches, eine besitzergreifende Zuneigung. Und sie fühlte sich verantwortlich – Regine war ein Wesen, das sie geformt hatte –, vielleicht war sie sogar mit an dem schuld, was jetzt geschah. Denn Regine hatte sich immer ohne Einschränkung zur Koordinatorin bekannt, ihre Meinung vertreten, für sie gestimmt … Sollte Absicht dahinterstecken, ein Schachzug, ein taktisches Manöver, das eigentlich gegen sie gerichtet war? Obwohl sie es längst wußte, wollte sie es nicht wahrhaben …
Die zweite Stufe des Tests war noch unangenehmer. Es ging nicht mehr um primitive Reflexe, die man leicht unterdrücken konnte, soweit sich trotz der strengen genetischen Selektionsvorschriften noch Relikte davon erhalten hatten. Es ging um psychische Eigenschaften, um die Persönlichkeit.
Inzwischen hatten drei Assistentinnen Regine in die Mitte genommen. Sie saßen ihr zugewandt, Regines Drehstuhl stellte sich jeweils automatisch in die Richtung auf die Person ein, die die Assoziationswörter ablas. Diese kamen hart und schnell, Zug und Zug, und Regine mußte es schwindelig werden – so rasch drehte sich ihr Stuhl.