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»Gift«,

»Peitsche«,

»Kerker«,

»Rache«,

»Schmerz« …

Regine brauchte nicht zu antworten. Am Enzephalographen war abzulesen, ob sie verstanden hatte und wie sie reagierte. Konnte man es wirklich ablesen? fragte sich Pia Katharina. Gab es Irrtümer, Fehler, Meßgrenzen? Immerhin waren es Männer gewesen, die diese Apparate geschaffen hatten, und die Frauen waren so klug gewesen, die Weiterentwicklung zu verbieten. Sie trieben keine Gehirnforschung mehr, keine Genetik, keine Mikrobiologie. Sie verzichteten auf technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, hatten den Irrweg der Leistung, der Vergrößerung, der Verbesserung verlassen. Sie brauchten keine noch schnelleren Straßengleiter, keine noch höheren Häuser, keine leistungsfähigeren Maschinen. Die Welt brauchte den Frieden, das Verständnis füreinander, die Liebe, wie sie nur Frauen aufbringen. Die Männer waren von Natur aus der Störungsfaktor gewesen, und die Frauen hatten die Konsequenzen daraus gezogen.

Andererseits waren sie nicht so kurzsichtig gewesen, auf das Instrumentarium der Technik verzichten zu wollen. Die Menschheit ist darauf angewiesen, es gab kein Zurück, sie nahm es in Kauf. Aber die Frauen wandten es sinnvoll an – nicht für zerstörerische Zwecke …

Einen Moment lang verwirrten sich die Gedanken Pia Katharinas. Dieser Enzephalograph, diese elektronische Schaubühne, dieses Stockwerk, vollgestopft mit Geräten der Elektromedizin, der Gehirnchirurgie … aber es bestand kein Zweifel daran – es war ihr Auftrag, ihre Welt frei von Aggression zu halten, und es durfte keine Inquisition geben. Sie mußten präzise sein. Gerecht. Unbeirrt …

Plötzlich merkte Pia Katharina, daß sich die Methode der Assoziationsbildung geändert hatte. Es waren keine beliebigen Reizwörter mehr, sondern Sätze – psychologische Auslöser, bewußt auf Regines Psychogramm der letzten Monate zusammengebastelt.

»Du stehst mit faschistischen Gruppen in Verbindung.«

»Du hast der gelben Rasse geheimes Material zugespielt.«

»Du hast versucht, einen Bericht der Befriedungskommission zu fälschen.«

»Du bereitest gemeinsam mit der Koordinatorin einen Staatsstreich vor.«

Pia Katharina wollte aufspringen, doch sie merkte, daß alle nur darauf warteten, und umklammerte die Lehnen ihres Stuhls. Man zog sie mit herein, und noch dazu auf höchst brüskierende Weise. Mühsam beherrschte sie sich, versuchte sich darauf zu konzentrieren, daß die als emotionale Auslöser gebrauchten Sätze keinen Realitätswert hatten, daß sie einzig und allein nach dem Gesichtspunkt konzipiert waren, möglichst intensive Reaktionen zu zeitigen. Das wußte auch die Testperson …

Pia Katharina blickte auf Regine, die noch immer mit ihrem Stuhl herumgeschleudert wurde – es sah aus, als hätte sie jeden Halt verloren. Galt das auch für ihre Selbstbeherrschung, ihren Willen? Die Koordinatorin schaute verstohlen zum Enzephalographen hinüber, und zu ihrem Entsetzen bemerkte sie Kaskaden von Wellenlinien, die wie Peitschen emporzuckten. Als der Test beendet war, brauchte sie gar nicht erst nach dem Ergebnis zu fragen. Als es ihr Esther mitteilte, zuckte sie nur die Schultern. So würde Regine auch der letzte nicht erspart bleiben: die dritte Stufe, die ihr obszön und sadistisch vorkam, aber natürlich ihren Grund hatte. Es ging nicht mehr um Aggression, sondern um die ärgste Art der Degeneration, die in ihrem Staate möglich war. Und es ging nicht mehr um Regine allein, sondern um alle Angehörigen ihres Klons, um ihre Mutter, aus deren Zellen sie gezüchtet worden war, um deren Mutter, um ihre eineiigen Schwestern, die alle waren wie sie …

Es handelte sich um eine Fortentwicklung des Szondi-Tests. Nur zeigte man keine Psychopathenvisagen, sondern Gesichter von jungen Männern. Und man zeigte nicht nur die Gesichter, sondern auch die Körper – zuerst bekleidet und dann nackt. Und wieder war es nicht nötig, sich auf die mehr oder weniger verfälschten Angaben der Testpersonen zu verlassen, sich gegen ihre Täuschungsmanöver zu wehren, sich auf subjektive Eindrücke zu verlassen, sondern die Elektronik legte die geheimsten Gefühlsregungen offen – sekundenschnell und fehlerfrei.

Pia Katharina gehörte zur ältesten noch lebenden Generation, sie hatte noch Männer gesehen. Sie hatte selbst zu jenen gehört, die die zersetzende maskuline Potenz fürchten gelernt hatten, und sie war eine der treibenden Kräfte für das gewesen, was dann geschehen war. Sie und ihre Anhänger hatten das Ziel erreicht – es gab keine Männer mehr. Obwohl sie auf möglichst humane Weise vorgegangen waren, wollte Pia Katharina nicht mehr daran denken, Und, sie wollte sich an keinen Mann mehr erinnern, keines der alten Bilder aus den Lexika, Lehrbüchern, Photoalben, Magazinen und dergleichen mehr sehen.

Aber Regine? Regine kannte nur Frauen, konnte sich eine Männerwelt nicht vorstellen. Was wußte sie von all dem Hassenswerten, was in ihnen steckte, von ihrem Egoismus, ihrer Selbstsicherheit, ihrer zerstörerischen Kreativität? Konnte sie sie hassen? Verachten? Verabscheuen?

Die ersten Bilder wurden projiziert, groß auf der Rasterscheibe vor Regine; klein, aber dutzendfach vervielfältigt auf den Schirmen der Videogeräte. Und alle starrten – mit bleichen oder geröteten Gesichtern, je nach Veranlagung, mit verkrampften Nackenmuskeln, mit einem Zittern in den Händen. Unter den Zuschauern waren viele jüngere Frauen, Angestellte der Koordinationszentrale, Mitglieder des Sicherheitskorps, Gäste von Schulen und Universitäten. Diese männlichen Körper mußten ihnen wie Monstren vorkommen, als Geschöpfe einer fremden Art, als Zerrbilder des ihnen vertrauten Menschen – der Frau. Aber war es wirklich so? Pia Katharina ließ ihren Blick noch einmal über die Zuschauer gleiten und hielt schließlich bei Regine inne. War das, was sie in den Mienen der jungen Frauen zu lesen glaubte, wirklich Ekel und Schreck? Fand Regine die Männer abstoßend? Mit einemmal erkannte Pia Katharina, daß das nicht unbedingt so sein mußte. Diese Mädchen, die nie einen lebenden Mann gesehen hatten … vielleicht reizte sie das Ungewöhnliche, das Unbekannte, das Gefährliche?

Pia Katharina schloß die Augen. Sie wollte nichts mehr sehen – weder die Männer auf den Bildschirmen noch die Zuschauer, weder die Psychologinnen noch Regine. Sie sah und hörte erst wieder, als Esther sie vorsichtig an der Schulter faßte. Der Triumph war nicht zu überhören, als Esther sagte: »Schade, Pia – es tut mir leid. Aber du hast sicher nichts geahnt … Willst du Einspruch erheben?«

Die Koordinatorin wußte, daß Esther nur darauf wartete, daß sie Einspruch erhob. Das hätte dem Sicherheitskorps einen Vorwand geliefert, um sich ihrer selbst anzunehmen. Unsere Aufgabe, dachte sie, unsere Ziele … gerade jetzt, in dieser Situation! Der Aufstand im Grenzbereich von China und Indien, der wechselnde Widerstand der Gelben, die Oppositionsgruppen im Inneren und die Jugend, die so Schwer zu führen und zu überzeugen war. Probleme, die sie lösen mußte, um die Welt zur Stätte des verheißenen Friedens zu machen. Jenes Friedens, in dessen Namen alles geschehen war … Das waren die Aufgaben, die im Vordergrund ihres Denkens stehen mußten. Was bedeuten demgegenüber persönliche Wünsche, Sympathien oder Schwächen?

Sie erhob sich, stand aufrecht und achtungsgebietend vor Esther wie stets in den vielen Jahren vorher.

»Das Resultat ist eindeutig«, sagte sie. »Ich habe euch allen für eure Wachsamkeit zu danken. Warum sollte ich Einspruch erheben? Tut, was nötig ist!«

Sie drehte sich nicht zu Regine um, als sie aus dem Saal ging.

An diesem Abend verließ sie die Zentrale durch den Hinterausgang und ging den Weg zu ihrem Haus zu Fuß. Sie brauchte den freien Himmel und die frische Luft. Es roch ein wenig nach Wasser, und mit Stolz registrierte sie, daß es sauberes Wasser war, das dort unten im Flußbett träge dahinströmte. Wenigstens das haben wir erreicht, sagte sie sich.