Als er aus der Wärme des Wageninneren in den kühlen Nebel hinaussprang, fühlte er einen Stich in seiner Schulter. Er würde sie wieder einmal bestrahlen lassen müssen. Mit eingezogenem Kopf ging er weiter, durch das Atemfilter mühsam Luft holend. Am liebsten hätte er heute auf das Abendessen verzichtet, aber die nicht abgegebenen Essenmarken hätten in der Abrechnung gefehlt und wären in seinem individuellen Protokoll vermerkt worden. Er stellte sich in die langen Reihen im Korridor vor der Kantine und war froh, daß vor und hinter ihm kein Bekannter stand. Er achtete nicht darauf, was ihm der Automat auf den Pappteller schob und hätte fast vergessen, Aufmerksamkeit zu heucheln, als nach dem Essen die News durchgegeben wurden. Auf dem großen Bildschirm auf der Stirnseite des Saals erschien der Sprecher und stellte einige verdiente Mitarbeiter vor – einen Biotechniker, der eine besonders große Algenausbeute zu verzeichnen hatte, und einen Beamten des Wasserwerks, der auf 10.000 erfolgreiche Chlorierungen zurücksehen konnte. Es folgten die »Berichte aus der Arbeitswelt« – Szenen aus einer Kugellagerfabrik und aus einer Werkstatt, in der Nylonborsten für Reinigungsanlagen erzeugt wurden. Mit dem gewohnten spontanen Beifall wurden die jüngsten Zahlen aus der Kommune quittiert – eine neue Strecke der U-Bahn freigegeben, eine Tagung über Probleme der Ergonomie erfolgreich beendet. Dazwischen kamen die kurzen Zeichentrickfilme, die in spaßiger Art auf oft begangene Fehler hinwiesen: ungenügende Reinigung es Arbeitsgeräts, Stromverbrauch und Nutzwasserverschwendung. Schließlich wurde auf Abgabetermine für die Formulare aus verschiedenen sozialen Aktionen aufmerke am gemacht, und nach dem Wetterbericht, der die Zeiten es für morgen vorgesehenen Regens angab, durften sie aufteilen und den Saal verlassen.
Ben verzichtete für diesmal auf die Lesestunde, für die er eine Sondererlaubnis hatte. Er setzte sich nur noch für einige Minuten in das Raummusiktheater, ließ die schwebenden und schwellenden Klänge auf sich wirken – und stellte doch nur fest, daß sie ihn nicht von seinen Grübeleien ablenken konnten.
Dann machte er sich zum Schlafengehen bereit, ein wenig früher als die anderen, die die Freizeit am Abend stets bis zur letzten Minute auskosteten. Der Schlafsaal war nahezu leer, die meisten Kojen unbesetzt. Ben hatte eine in der vierten Reihe – über eine kleine Leiter stieg er hinauf. Es waren vier Quadratmeter, und sie gehörten ihm allein. Zwei Schränke, ein Lautsprecher – der Anschluß zum öffentlichen Rundfunkprogramm –, sein Bett. Aus dem Punkteüberschuß der letzten Monate hatte er sich eine bunte Decke und einen Kissenüberzug gekauft; so unterschied sich seine Schlafstätte wohltuend von dem einheitlichen Grau der anderen. Und an die Schrankwände hatte er die Etiketten der letzten Sammelaktion geklebt. Er hätte sie gegen Schokominz-Würfel umtauschen können, doch sie waren so hübsch, daß er sie lieber für sich behielt.
Sonst, wenn er den Vorhang zuzog und sich damit vor der öffentlichen Welt verschloß, hatte er immer ein Gefühl der Zufriedenheit verspürt – eine Art Harmonie zwischen sich und der Gesellschaft, die in einer dialektischen Wechselwirkung zueinander stehen und doch, auf einer höheren Ebene, eins sind. Doch dieses Gefühl versagte sich ihm heute, und so blieb ihm als letzte Hoffnung nur noch Blondy, seine Schlafpuppe. Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, sie gegen den anderen Typ, die etwas kleinere und schwarze Blacky, umzutauschen, hatte sich doch letztlich nie dazu entschließen können. Nun war er froh, daß er sie behalten hatte. Er legte sie neben sich ins Bett, drückte sich an sie und kostete das Gefühl der Wärme aus, das sie ihm stets übermittelte. Er ließ seine Finger durch ihr blondes Kunsthaar streichen und schmiegte seine Wange an die ihre. Endlich merkte er, daß die ihn beunruhigenden Gedanken von ihm abließen und daß es doch noch Momente im Leben gab –Belohnung für die im Dienste der Gemeinschaft geleistete Arbeit –, die ihm niemand wegnehmen konnte. Sogar die Schmerzen in seiner Schulter verschwanden, und er überließ sich den zärtlichen Bemühungen der Puppe – durch ein Feedbacksystem kontrolliert und gesteuert.
Seiner biologisch bedingten physischen und psychischen Struktur gemäß ist der Mensch auf Tätigkeit angelegt. Im archaischen Zeitalter diente seine Aktivität der Erhaltung des Überlebens. Da es keinerlei Instanzen gab, die für die Durchführung eventuell unterlassener notwendiger Maßnahmen verantwortlich waren, stand die gesamte Existenz des Menschen unter einem ständigen Zwang, der sich mit den Grundsätzen unseres modernen Staats nicht in Einklang bringen läßt. Aus diesem Grund hat der Staat die Versorgung und Betreuung der Bürger übernommen –, eine Voraussetzung für Freiheit und Glück.
Maßnahmen dieser Art verlangen auch eine Änderung der menschlichen Funktionen und Einstellungen. Die Teams der anthropologischen Planungsabteilungen sind dabei, die Eingriffe vorzubereiten, die den Menschen auch biologisch von dem Zwang ununterbrochener Aktivität und Wachheit befreien. Bevor dieses Problem nicht gelöst ist, muß unsere Situation als Übergangsstadium gewertet werden. Obwohl es, insbesondere mit medikamentösen Mitteln, durchaus möglich ist, den Aktivitätspegel herabzusetzen, bleibt doch die Notwendigkeit bestehen, einen vorderhand nicht reduzierbaren Rest an Aktionspotential zu berücksichtigen. Aus diesem Grund sind die Angehörigen der Klassen C bis H bedingt und jene der Klassen I bis T ausschließlich mit pseudoberuflicher Tätigkeit zu beschäftigen. Dabei handelt es sich um eine Art der Berufsausübung, die äußerlich den im archaischen Zeitalter üblichen Berufsständen entspricht, der jedoch die produktive Komponente fehlt. Unvermeidbare Arbeitsleistungen sind durch Dispersionsprozesse zu kompensieren. Angehörige der nicht angepaßten Klassen U bis X können vorderhand zu Dienstleistungen in Form von körperlicher Arbeit herangezogen werden, durch die ihr energetisches Potential ausgeglichen wird. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Tätigkeiten, zu deren Automatisierung ein höherer Aufwand an Robotsystemen nötig wäre.
Es entspricht somit der Planungsstrategie, daß ein gewisser Teil der lebenserhaltenden Maßnahmen – insbesondere für Versorgung und Dienstleistung – vorderhand von der Automatisierung und Computerisierung ausgenommen wird. Die Vorbereitungen für eine Umstellung auf Vollautomatisierung sind jedoch praktisch beendet; diese kann jederzeit kurzfristig erfolgen, sobald das biologischanthropologische Problem gelöst ist.
3.
Als Ben am nächsten Tag seinen Arbeitsraum betrat und sich ans Pult setzte, war ihm, als hätte sich hier etwas verändert …, doch es gelang ihm nicht herauszufinden, was es war. Die Konsolen waren blank geputzt wie immer, der antistatische Leuchtschirm glänzte, die Magnetbänder im Eingabesystem waren straff gespannt, das grüne Kontrolllicht brannte, die Anzeige des Adressenwählers stand auf Null. Die grauen Gevierte der Kästen, unter denen sich die elektronischen Eingeweide verbargen, waren perfekt ausgerichtet in den Raum geschrieben, die Kanten ordneten sich einem rechtwinkligen Koordinatensystem ohne die geringste Abweichung ein. Das war sein Arbeitsraum, so wie er es seit Monaten und Jahren gewesen war – und doch kam er Ben heute anders vor. Aber er war es selbst, der sich verändert hatte; es war seine Beziehung zu den Geräten, zu seiner Aufgabe, zu deren Sinn … die alte absolute Trennung zwischen Subjekt und Objekt war plötzlich aufgehoben. Er war nicht mehr unbeteiligt, denn es ging um ihn selbst.
Er hatte sich vorgenommen, seine Arbeit durchzuführen, wie stets bisher. Es gab keine Vorschrift, die ihn zu etwas anderem hätte veranlassen können. Und er sah auch keinen Grund, von der Routine abzugehen. Sollte sich in seinem Verhalten die geringste Abweichung von der Norm zeigen, so würde er das feststellen, genausogut wie es ein anderer festgestellt hätte. Doch schon als er das Programm aktivierte und die ersten Daten aufrief, stellte er fest, daß sein Herz wieder klopfte, daß sein Atem schneller ging, daß er gespannt auf den Schirm starrte … Er griff zur Pillenschachtel und ließ zwei der weißen Scheibchen in seinen Mund gleiten. Beruhigung und Konzentration – mit Hilfe der Chemie und der Pharmazie würde er seine Aufgabe erfüllen. Und er wollte sie erfüllen.