Lügen kam Roger gar nicht in den Sinn. Der Familienbrauch, fragwürdige Feststellungen auf Herausforderung der anderen beweisen zu müssen, hatte ihn wie auch die anderen Kinder gelehrt, Beweise gelten zu lassen und von nutzlosem Leugnen Abstand zu nehmen. Die einzige Frage, die ihn bewegte, war, ob er es sagen sollte oder nicht. Er wußte, daß ihm keine Strafe drohte, wenn er sich weigerte. Ebenso wußte er, daß sein Vater ihm bei diesem Problem, das auch seine eigenen Fähigkeiten überstieg, nicht helfen konnte und daß es mit Sicherheit keine weiteren Nachtausflüge auf der Suche nach landenden Torpedos geben würde. Er berichtete, was geschehen war… mit allen Einzelheiten, die das nahezu vollkommen eidetische Gedächtnis der Kindheit ihm eingab. Nachdem er seine Geschichte beendet hatte, schwieg sein Vater.
»Daß du Don und mir gefolgt bist, wollen wir unter den Tisch fallen lassen«, sagte er schließlich. »Man hat es dir nie ausdrücklich verboten, und Neugierde ist ein recht gesunder Zug. Daß du in der Nacht im Wald hängengeblieben bist, ohne Proviant, Wasser und Licht, ist schon viel ernster zu bewerten, noch dazu in Anbetracht der Tatsache, daß man von dir annehmen kann, du wüßtest es besser. Da deine Geschichte aber so interessant ist, wollen wir die Strafe für dein Vergehen aussetzen.«
Roger grinste. »Wie wäre das Urteil ausgefallen?«
»Am logischsten wäre eine ein- oder zweiwöchige Beschränkung auf die Sechshundert-Meter-Bannmeile. Du hast dich benommen wie ein Sechsjähriger. Also, stell dir vor, diese Strafe hängt über deinem Haupt, und damit können wir uns dringenderen Angelegenheiten zuwenden. Ich nehme an, daß Edie alles weiß.«
»Sie weiß nur, was damals in der Nacht passierte. Von den folgenden Ausflügen weiß sie nichts.«
»Na schön. Nach dem Frühstück holst du sie, und ihr beide kommt zu mir. Wir müssen einiges besprechen.«
Es zeigte sich, daß auch Don an dieser Besprechung teilnahm. Sie fand in einem kleinen natürlichen Amphitheater oberhalb des Hauses statt, das mit grob behauenen Holzbänken ausgestattet war. Mr. Wing verlor keine Zeit. Er erzählte den jüngeren Kindern die Geschichte, die er einige Tage zuvor Donald erzählt hatte. Dann wiederholte Roger seinem älteren Bruder zuliebe seine Geschichte. Don hatte inzwischen natürlich ein sarrianisches Torpedo zu Gesicht bekommen, da er dabei gewesen war, als vor einigen Tagen die erste Ladung Tabak übergeben wurde. Es bestand kein Zweifel, daß das Gebilde, das Roger gesehen hatte, denselben Ursprung haben mußte.
»Ich begreife nicht, warum sie nach all diesen Jahren ihre Operationsbasis verlagern.« Mr. Wing schien sehr verwundert. »Seit Dons Geburt sind sie jeden Sommer zu der Vorrichtung zurückgekommen, die unserer Ansicht nach eine Art Peilsender sein muß.«
»Du weißt nicht sicher, ob sie nicht auch anderswo schon gelandet sind«, hob Don hervor. »Roger traf ganz zufällig auf einen ihrer Torpedos. Es kann überall auf der Erde zahllose andere gegeben haben.«
»Das stimmt natürlich. Roger, du hast doch auf deinen nächtlichen Wanderungen nicht Spuren anderer Landungen entdecken können, oder?«
»Dad, da bin ich nicht sicher. Auf einem Hügel habe ich einen verbrannten Strauch gesehen, der ganz für sich allein steht. Nirgends Spuren von einem Lagerfeuer, und Gewitter hat es auch nicht gegeben. Ich dachte, eines dieser Dinger hätte etwas fallengelassen, ähnlich dem, das mir die Hand verbrannte und den Brand verursachte. Aber ich konnte nichts dergleichen finden. Ich weiß nicht, was den Strauch versengt hat.«
»Verstehe. Also, Zusammenfassung: Wir haben lange Zeit mit außerirdischen Wesen Handel betrieben; wir sind vielleicht und vielleicht auch nicht die einzigen Handelspartner. Zumindest einmal schickten sie eine Sonde herunter, deren Mission in erster Linie nicht der Handel war.«
»Falls nicht das Licht, das Roger sah, Aufmerksamkeit erregen sollte«, warf Donald ein.
»In diesem Fall hätten die wohl ihr Gold nicht zu heiß zum Anfassen angeboten. Außerdem habe ich Gold nie gewollt… mir reichen als Konkurrenz die gewöhnlichen Prospektoren. Ich kann auf einen Goldrausch von Amateuren verzichten.«
»Wir wissen aber nicht, ob andere Menschen, falls es noch andere gibt, mit denen die Außerirdischen Kontakt haben, ebenso denken. Ich glaube aber, daß du mit der Temperatur recht hast. Sicher haben sie ein Experiment durchgeführt, und das Handelsangebot kam nebenbei, als sie Rogers Stimme hörten.«
»Ein schmutziger Trick war das«, bemerkte Roger.
»Vielleicht ganz unabsichtlich. Ihre Kenntnisse unserer Sprache sind sehr begrenzt, außerdem habe ich den Eindruck, daß sie nicht heruntersehen können. Entweder ist ihnen Fernsehen unbekannt, oder aber sie können in die Torpedos keinen Sender einbauen. Außerdem bist du ihnen überraschend über den Weg gelaufen, und die haben wohl in der Erregung des Augenblicks vergessen, daß das Gold heiß war. Du sagtest, es wäre da noch ein anderer Behälter gewesen, der leuchtete. Aber über diesen Punkt lohnt sich wohl keine Diskussion.
Ich hatte diesen Schritt eigentlich erst geplant, bis Roger und Edie älter sein würden und schon so viel gelernt hätten, daß sie uns mehr hätten helfen können. In dieser Hinsicht habe ich jetzt keinen Einfluß mehr. Was ich jetzt möchte und wozu ich eure Hilfe brauche, ist folgendes: Ich möchte herausbekommen, woher diese Dinger kommen, was für Wesen sie steuern – und wenn möglich, wie sie funktionieren. Ich brauche euch nicht eigens zu sagen, wie wichtig dieses Wissen ist. Ich habe nie versucht, außenstehende Fachleute heranzuziehen, weil ich fürchtete, bei denen würde die Neugierde über die Vernunft siegen. Ich möchte nicht, daß die Torpedos durch übereiltes Vorgehen erschreckt werden. Ich bin nämlich zu alt, um noch einen neuen Handel aufzumachen.«
»Quatsch!« Es war Edies erster Beitrag zur Diskussion. Sie hatte bisher bloß sehr aufmerksam zugehört. »Was werden wir jetzt tun?« fragte der praktisch veranlagte Roger.
»Erstens werdet ihr beide mitkommen, wenn wir nächstes Mal unsere Waren austauschen. Ich könnte auch die Kleinen mitnehmen, bloß wäre es für sie ein Gewaltmarsch. Ihr könnt zuhören, beobachten und euch alles merken. Hinterher erwarte ich mir Ideen von euch. Roger, ich hatte gehofft, du würdest schon Elektronikfachmann sein, wenn dies einträfe. Na ja, wir werden uns zunutze machen, was uns zur Verfügung steht.«
»Vielleicht kann mein Mißgeschick von letzter Nacht uns nützen«, meinte Roger. »Wenn die so scharf auf Tabak sind, daß sie dafür mit Platin und Iridium zahlen, dann sind sie vielleicht bereit, sich zu entschuldigen.«
»Vorausgesetzt, sie wissen, daß sie dir wehgetan haben, und sind imstande, sich einen Weg zur Übermittlung der Entschuldigung auszudenken. Ich würde ein oder zwei zusätzliche Nuggets nicht ablehnen, falls sie uns welche schicken, aber sehr informativ wäre das nicht.«
»Ja, vermutlich hast du recht. Ich werde die ganze Umgebung der Stelle absuchen, wo ihr die Sachen austauscht. Sollten sie im Wald noch an anderen Stellen gelandet sein, werde ich sie finden – da gibt es jede Menge geknickte Äste und eine tiefe torpedoförmige Delle im Boden.«
»Wenn du glaubst, daß es sich lohnt«, bemerkte Don. »Warum sollten sie ausgerechnet in der näheren Umgebung landen? Die Erde ist ziemlich groß.«
»Einmal haben sie es getan, und ich wette, daß ich weiß warum!« gab Roger zurück. »Der Richtungssender steht hier! Wenn du eine neue Welt erforschen müßtest oder auch nur ein neues Land, dann würdest du auch nicht hier eine Landung machen und die nächste fünfhundert Kilometer weiter. Ganz bestimmt nicht. Du würdest dich zuerst in einer Gegend umsehen, einen Vorposten einrichten und von dort aus ausschwärmen.«
Während die anderen diese Erklärung verarbeiteten, herrschte Schweigen.