»Du meinst also«, sagte dann Mr. Wing, »daß sie nach zwanzig Jahren reiner Handelsbeziehungen plötzlich auf Entdeckung gehen? Warum nicht schon früher?«
»Unfaire Frage.«
»Stimmt. Na meinetwegen, es ist immerhin eine brauchbare Arbeitshypothese. Mach weiter mit deinen Erkundungsgängen – Edie kann sich beteiligen, wenn sie will. Ich halte die Idee nicht für so umwerfend, daß ich mich selbst der Mühe unterzöge, aber in ein oder zwei Tagen werde ich signalisieren, daß wieder ein Torpedo geschickt werden soll. Auf diese Weise habt ihr ausreichend Zeit, euch gründlich umzusehen.«
»Na ja…« Roger hatte beim Kartenzeichnen gemerkt, was es heißt, einen Quadratkilometer gründlich zu erkunden. »Ein bißchen umsehen können wir uns. Ich gehe jetzt gleich los, wenn niemand brauchbare Ideen hat. Kommst du mit, Edie?« Das Mädchen stand wortlos auf und folgte ihm zurück zum Haus. Mr. Wing sah ihnen belustigt nach.
»Mir wäre lieber, Rogers Theorie würde mir nicht so viel Sorge bereiten«, sagte er plötzlich zu Donald. »Vielleicht hat er recht… vielleicht haben diese Wesen es satt, für Tabak zu bezahlen. Sie sind in den Naturwissenschaften sicher fortgeschrittener als wir.«
»Na, wenn sie hier in der Umgebung nach Tabakpflanzen suchen, dann haben sie viel zu tun«, antwortete Don. »Besser, sie halten sich an friedliche Bedingungen.«
»Na, das sag ihnen mal«, murmelte Mr. Wing.
Roger und Edie verloren keine Zeit. Diesmal wurde der Proviant nicht vergessen. In aller Eile machten sie ein paar belegte Brote zurecht. Ihre Mutter hatte sich längst mit der Tatsache abgefunden, daß Plünderungen der Speisekammer untrennbar mit dem Überleben im Wald zusammenhingen. Zusätzlich mit einem Wasserkanister ausgerüstet, machten sie sich in östlicher Richtung auf den Weg.
Billy und Marjorie spielten irgendwo und waren nicht zu sehen. Es gab also keinen Ärger, weil die beiden Kleinen allein zu Hause bleiben mußten. Mr. Wings Beschreibung war so klar gewesen, daß sie den sarrianischen Sender ohne Schwierigkeiten fanden. Von dort ging ihre Suchexpedition aus. Auf Edies Vorschlag hin trennten sie sich. Sie übernahm die Südhänge auf einer Linie bis zum Haus, Roger die Nordhänge. Sie kamen überein, sich so hoch als möglich zu halten, damit sie die meiste Zeit über in Rufweite blieben. In dieser kurzen Zeit hatte es wenig Sinn, nach etwaigen Spuren in den Wäldern zu suchen. Doch es war immerhin möglich, daß sie verbrannte Stellen sichteten wie jene, die Roger bereits gesehen hatte oder geknickte Baumwipfel oder Äste, wenn sie von ihren Standorten bergab blickten. Auf jeden Fall konnte man auf diese Weise ein größeres Gebiet absuchen. Die beiden hatten erst gar keine Debatte darüber angefangen, ob es besser wäre, ein kleines Gebiet genau abzusuchen oder über ein großes nur ungefähr Bescheid zu wissen.
Weder Roger noch Edith waren auf dem Hügel, wo Ken niederging und landete. Die Natur hatte es eingerichtet, daß sie in der Nähe waren, doch der Zufall hatte nicht zugelassen, daß die Sache weiter gedieh. Die Natur hatte zum Glück noch einen Trick in Reserve.
Bis zu diesem Morgen hatte Roger es für mehr oder weniger selbstverständlich angesehen, daß alle zukünftigen Besuche des Torpedos bei Nacht vonstatten gehen würden wie der erste Besuch. Die Geschichte seines Vaters hatte diese Meinung ins Wanken gebracht. Sein Blick wanderte immer häufiger zum Himmel hoch. Daher war es kein Wunder, daß er das niedergehende Torpedo entdeckte.
Es befand sich etwa drei Kilometer von den Kindern entfernt, so daß er Einzelheiten nicht ausmachen konnte. Roger war jedoch sicher, daß es sich um keinen Vogel handelte. Aus dieser Entfernung wirkte der am Torpedo baumelnde Ken reichlich sonderbar. Einzelheiten oder nicht, Roger bezweifelte keine Sekunde, was es war. Mit einem lauten Ausruf, den seine Schwester hören mochte oder nicht, raste er in halsbrecherischem Tempo bergab.
Kurze Zeit konnte er ein phantastisches Tempo beibehalten, da die Unebenheiten der Felsen für seine wachen Augen und geübten Muskeln kein Hindernis darstellten. Erst als er zum Wald kam, mußte er beträchtlich abbremsen. Eine Zeitlang behielt er sein Tempo noch bei, dann aber machte er sich klar, daß er noch mindestens einen Hügel zu überwinden und einen zweiten bis zum Kamm zu erklimmen hatte, und ließ sich etwas Zeit.
Als er eine dreiviertel Stunde später den Hügelkamm erreichte, auf den das Torpedo zusteuerte, hatte er nasse Füße, total zerkratzte Beine und war ganz außer Atem. Von Edith hatte er keine Spur gesehen, ja, er hatte sie eigentlich vergessen. Sie hätte ihm wieder einfallen müssen, als er am Gipfel der kleinen Erhebung innehielt, Atem holte und sich nach dem Objekt seiner Suche umblickte. Da sah er das Torpedo, ein kurzes Stück hügelab auf der anderen Seite. Und er sah Sallman Ken.
Roger kannte Bilder der gewaltigen Druckanzüge, die bei Tiefseexpeditionen Verwendung finden. Kens Anblick erregte sein Erstaunen daher nicht allzusehr, gewiß viel weniger, als der Anblick eines Sarrianers ohne diesen Anzug es getan hätte. Der Anzug nämlich vermenschlichte das Aussehen Kens beträchtlich, da auch ein menschliches Wesen darin Platz gefunden hätte, ohne sich zu sehr verrenken zu müssen.
Aus technischen Gründen hatten die Beine nur ein einziges ›Knie‹, das dem oberen Gelenk der sarrianischen Gliedmaße entsprach. Der Leib hatte Menschengröße und war zylindrisch. Es gab nur zwei obere Extremitäten. Diese waren beweglicher als es bei einem für Menschen konstruierten ähnlichen Anzug hätte sein müssen. Sie gaben jedenfalls nicht den geringsten Hinweis darauf, daß die Wesen, die sie trugen, sie mit jeweils zwei Tentakeln bewegten. Die Greifer an den Extremitäten wirkten ganz natürlich, wenn auch viel komplizierter als die klauenähnlichen Vorrichtungen, die der Junge auf den Bildern von den Tauchanzügen gesehen hatte.
Aus der Entfernung, in der er sich befand, konnte er nicht deutlich durch die Sichtscheibe im Helm sehen. Es entging ihm daher im ersten Moment wie unmenschlich der Träger des plumpen Anzugs war.
Roger stand da und starrte das Wesen an. Nach einer Weile stieß er den Schrei aus, der Kens ›Einschiffen‹ jäh unterbrach. Der Sarrianer war so vertieft in sein Vorhaben, daß er Roger gar nicht bemerkte, ehe dieser schrie. Und dann sah er nichts anderes mehr. Er selbst war nicht in die Richtung gewendet, aus der der Schrei kam, doch eine der Sichtscheiben des Helms war es. Sein Interesse war so groß, daß er sich nicht die Mühe machte, den Panzer als Ganzes zu drehen, nachdem er einen ersten Blick auf das Wesen geworfen hatte, das zu ihm heruntergelaufen kam. Er blieb einfach stehen und blickte Roger mit dem einen Auge entgegen, das er in Position bringen konnte. Daß das fremde Wesen feindselige Absichten haben könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn.
Auch Roger dachte keinen Augenblick an diese Möglichkeit. Seinem Wesen nach war er Ken viel zu ähnlich, trotz der gewaltigen körperlichen Unterschiede. Sie standen einander gegenüber… Ken hatte sich doch zum Wenden der Rüstung entschlossen, damit er mit beiden Augen sehen konnte… und registrierten schweigend alle Einzelheiten, die das jeweilige Sehvermögen ausmachen konnte. Dabei hatte jeder einen Vorteil. Rogers Vorteil war der Umstand, daß das Licht für ihn normal war, während Ken den Jungen ohne eine Hülle von ein paar hundert Kilo vor sich stehen hatte. Jetzt konnte Roger das Gesicht des Sarrianers sehen: die großen, auseinanderstehenden, einzeln beweglichen Augen, das Nichts, wo eine Nase hingehörte, und den breiten, dünnlippigen, erstaunlich menschlichen Mund. Die Stille zog sich hin.
Sie wurde von Feth unterbrochen, dessen Besorgnis mit jeder Sekunde seit Rogers Schrei gewachsen war.
»Was ist passiert? Etwas schiefgegangen? Ken, bist du in Ordnung?«
Ken fand seine Stimme wieder. »Alles tadellos. Wir haben Gesellschaft bekommen, wie Ihnen sicher nicht entgangen ist.« Er begann Roger so gründlich als möglich zu beschreiben, wurde aber von Feth unterbrochen.