»Ich verstehe es sehr gut«, antwortete Poirot. »Und Spence auch. Man stößt manchmal auf solche Fälle. Da sind die Beweise, das Motiv, die Gelegenheit, die mise-en-scene, einfach alles. Man könnte sagen, ein kompletter Entwurf. Und trotzdem wissen die Leute, die aus beruflichen Gründen damit zu tun haben, daß alles falsch ist, genauso wie ein Kunstkritiker weiß, ob ein Bild gefälscht ist, ob es das Original oder eine Kopie ist.«
»Ich konnte nichts machen«, sagte Garroway. »Ich habe den Fall gründlich durchleuchtet, drüber und drunter und dahinter gesehen, sozusagen. Ich habe mit den Leuten gesprochen. Es war einfach nichts da. Es sah wie ein Doppelselbstmord aus, alles sprach dafür. Natürlich konnte es aber auch der Gatte ge-wesen sein, der erst seine Frau erschoß und dann sich selbst, oder die Frau, die ihren Mann und dann sich selbst erschoß. Das hat es alles schon gegeben. Aber in den meisten Fällen hat man eine Ahnung, warum.«
»Hier fehlte das Motiv. Ist es das?« fragte Poirot.
»Ja, genau. Sie wissen ja, sobald man anfängt, nachzuforschen, bekommt man in der Regel schnell ein gutes Bild von den Leuten, wie sie lebten und so weiter. Hier war ein Ehepaar -der Gatte von einwandfreiem Ruf, sie eine zärtliche, reizvolle Frau -, das sich gut verstand. So was findet man ziemlich rasch heraus. Sie führten eine glückliche Ehe. Sie gingen spazieren, legten abends Patiencen, hatten Kinder, die ihnen keine großen Sorgen machten. Der Junge war auf einer Schule in England, das Mädchen in einem Schweizer Pensionat. Soweit man das beurteilen konnte, stimmte in ihrem Leben alles. Die Ärzte erklärten, daß ihre Gesundheit in Ordnung war. Der Mann hatte einen etwas zu hohen Blutdruck, seine Frau hatte einen kleinen Herzschaden, nichts Ernsthaftes. Natürlich könnten sie sich mal Sorgen wegen ihrer Gesundheit gemacht haben. Es gibt viele Leute, die bei bester Gesundheit sind und doch glauben, daß sie an Krebs leiden und kein Jahr mehr leben werden. Das führt manchmal sogar zum Selbstmord. Aber die Ravenscrofts schienen nicht zu dieser Sorte von Leuten zu gehören. Allem Anschein nach waren sie ausgeglichene und friedliche Menschen.«
»Was haben Sie also wirklich von der Sache gehalten?« fragte Poirot.
»Das ist es ja gerade! Wenn ich so zurückschaue, dann sage ich mir, es war Selbstmord. Es kann nur Selbstmord gewesen sein. Aus diesem oder jenem Grund konnten sie das Leben nicht mehr ertragen. Nicht aus finanziellen Gründen, nicht aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie unglücklich waren. Und da, sehen Sie, kam ich an einen toten Punkt. Es sah doch alles nach Selbstmord aus! Sie machten einen Spaziergang. Sie nahmen einen Revolver mit. Der Revolver wurde zwischen den Leichen gefunden. Er trug verwischte Fingerabdrücke von beiden. Beide hatten ihn also in der Hand gehabt; aber nichts wies darauf hin, wer zuletzt geschossen hatte. Man möchte annehmen, daß der Gatte seine Frau und dann sich erschoß. Einfach, weil es wahrscheinlicher ist. Aber warum?
So viele Jahre sind vergangen. Wenn ich manchmal in der Zeitung von Toten lese, von einem Ehepaar, das sich anscheinend gemeinsam das Leben nahm, dann erinnere ich mich und überlege, was im Fall Ravenscroft passiert sein könnte.
Zwölf oder vierzehn Jahre sind es her, und ich überlege noch immer, warum, warum, warum? Hat der Mann vielleicht seine Frau gehaßt, haßte er sie schon lange Zeit? Hat die Frau vielleicht ihren Mann gehaßt und wollte ihn loswerden? Haben sie sich so gehaßt, daß sie es nicht mehr ertragen konnten?« Garroway brach noch ein Stückchen Brot ab und kaute darauf herum.
»Haben Sie eine Idee, Monsieur Poirot? Ist jemand zu Ihnen gekommen und hat Ihnen etwas erzählt, das Ihr Interesse weckte? Das das >Warum< erklärt?«
»Nein. Aber trotzdem«, antwortete Poirot, »müssen Sie eine Theorie gehabt haben. Erzählen Sie schon, was für eine Theorie hatten Sie?«
»Natürlich, Sie haben recht. Man hat Theorien, und man erwartet, daß sie - oder wenigstens eine davon - zutreffen, aber gewöhnlich tun sie's nicht. Schließlich kam ich zu der Meinung, daß man das Motiv nicht finden konnte, weil man nicht genug wußte. Was wußte ich denn tatsächlich?
General Ravenscroft war fast sechzig, seine Frau fünfunddreißig. Um genau zu sein, ich kannte die letzten fünf oder sechs Jahre ihres Lebens. Der General hatte sich pensionieren lassen, und sie waren aus dem Ausland nach England zurückgekommen. Alles Beweismaterial, all mein Wissen stammte aus diesen paar Jahren. Zuerst wohnten sie in einem Haus in Bournernouth, dann zogen sie nach Overcliffe, wo sich die Tragödie ereignete. Sie hatten dort ruhig gelebt, glücklich, ihre Kinder kamen in den Ferien nach Hause. Es war eine friedvolle Zeit, möchte ich sagen, am Ende eines fast friedvollen Lebens.
Es gab kein finanzielles Motiv, kein Haßmotiv, keine Liebesaffären. Nichts dergleichen. Aber die Zeit zuvor! Was wußte ich über sie? Sehr wenig. Sie hatten ihr Leben meistens im Ausland verbracht, abgesehen von gelegentlichen Besuchen in England, der Mann hatte einen einwandfreien Ruf, die Freunde der Frau berichteten nur Gutes. Es gab keine Tragödie, keine Streitereien, nichts. Aber vielleicht wußte ich nur nicht Bescheid? Da war ein Zeitraum von zwanzig - dreißig Jahren, von der Kindheit bis zur Ehe, die Zeit, die sie in Indien oder sonstwo lebten. Vielleicht lag da die Ursache zu der Tragödie? Es gibt ein Sprichwort, das meine Großmutter oft gebrauchte: Alte Sünden werfen lange Schatten. War die Todesursache so ein Schatten, ein Schatten aus der Vergangenheit? Das herauszufinden ist nicht leicht. Man kann den Lebenslauf eines Mannes überprüfen, hören, was Freunde oder Bekannte berichten, aber man kennt keine intimen Einzelheiten.
Ich glaube, allmählich setzte sich der Gedanke in meinem Kopf fest, daß da meine Nachforschungen hätten beginnen müssen, wenn es möglich gewesen wäre. Irgend etwas mußte damals geschehen sein, in einem andern Land vielleicht. Ein Ereignis, das man vergessen glaubte, das längst vergangen schien, dessen Auswirkungen aber doch bis in die Gegenwart reichten. Ein Groll, ein Streit, von dem niemand wußte, eine Geschichte, die sich weiß Gott wo und wann ereignet hatte. Wenn man nur gewußt hätte, wo man hätte suchen sollen.«
»Es gehörte vielleicht zu den Dingen«, meinte Poirot, »an die sich niemand mehr erinnert -heute noch erinnert. Ihre Freunde hier in England hatten womöglich keine Ahnung.«
»Ihre Freunde in England stammten meistens aus der Zeit nach seiner Pensionierung, wenn auch hin und wieder alte Freunde sie besuchten. Aber man erfährt nicht viel über Ereignisse, die in der Vergangenheit geschehen sind. Die Menschen vergessen.«
»Ja«, antwortete Poirot gedankenvoll. »Die Menschen vergessen. «
»Sie sind nicht wie die Elefanten«, warf Chefsuperintendent Garroway mit einem kleinen Lächeln ein. »Elefanten, sagt man, vergessen nie.«
»Merkwürdig, daß Sie das sagen«, rief Poirot. Chefsuperintendent Garroway sah Poirot etwas überrascht an. Er schien auf eine Erklärung zu warten. Auch Spence warf einen kurzen Blick auf seinen alten Freund.
»Vielleicht passierte es in Indien«, schlug er vor. »Daher kommen ja schließlich die Elefanten, nicht wahr? Oder aus Afrika. Aber wer hat Ihnen gegenüber Elefanten erwähnt?« »Eine Freundin von mir, ganz zufällig«, erklärte Poirot. »Jemand, den Sie kennen«, fügte er zu Superintendent Spence gewandt hinzu. »Mrs. Oliver.«
»Oh, Mrs. Ariadne Oliver. Und weiter?«
»Was weiter?« fragte Poirot.
»Weiß sie etwas?« fragte Spence.
»Bis jetzt, glaube ich noch nicht«, meinte Poirot, »aber vielleicht bald.« Dann fügte er nachdenklich hinzu: »Sie ist der Typ dafür. Sie kommt viel herum, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Allerdings«, stimmte Spence zu. »Hat sie irgendwelche Vorstellungen?«
»Sprechen Sie von Mrs. Ariadne Oliver, der Schriftstellerin?« warf Garroway ein.
»Genau«, sagte Spence.
»Versteht sie was von Verbrechen? Ich weiß, daß sie Kriminalromane schreibt. Aber ich habe nie rausgebracht, woher sie ihre Einfälle und Fakten nimmt.«