Выбрать главу

»Ja, ich erinnere mich, als Sie ein kleines Mädchen waren, haben Sie so gern Geschichten gehört. Da war eine mit einem Tiger und eine über Affen - Affen auf einem Baum.«

»Ja«, sagte Mrs. Oliver. »An die erinnere ich mich. Es ist schon lange her.«

Ihre Gedanken wanderten zurück in ihre Kindheit, als sie sechs oder sieben Jahre alt gewesen war und in zu engen Knopfstiefeln auf einer englischen Straße spazierenging und einer Geschichte zuhörte, die ein freundliches Kindermädchen über Indien oder Ägypten erzählte. Das Kindermädchen war Mrs. Matcham gewesen. Mrs. Oliver sah sich im Zimmer um, während sie ihrer Gastgeberin hinausfolgte. Da hingen und standen Bilder von Mädchen und Schuljungen, von Kindern und Erwachsenen, meistens in ihren besten Kleidern und Anzügen fotografiert und in hübschen Rahmen, alle Fotos Zeichen dafür, daß man sein Kindermädchen nicht vergessen hatte. Sicherlich sorgten die früheren Zöglinge auch dafür, dachte Mrs. Oliver, daß ihre Nanny einigermaßen gut leben konnte und genug Geld hatte. Plötzlich spürte Mrs. Oliver das Verlangen zu weinen. Das sah ihr wenig ähnlich, und es gelang ihr, sich energisch zur Ordnung zu rufen. Sie folgte Mrs. Matcham in die Küche und holte dort ihre Geschenke hervor.

»Nein, so was, Miss Ariadne! Eine Dose Tophole-Thathams-Tee. Den hatte ich schon immer am liebsten. Daß Sie sich daran erinnern! Ich kann ihn heutzutage kaum noch kriegen. Und meine Lieblingsplätzchen! Sie sind mir eine! Wie haben sie Sie doch genannt - die beiden kleinen Jungen, die immer zum Spielen kamen? Einer nannte Sie Lady Elefant und der andre Lady Schwan. Sie ritten auf Ihrem Rücken, und Sie gingen auf allen vieren und taten, als hätten Sie einen Rüssel!«

»Sie vergessen kaum etwas, Nanny, nicht wahr?« sagte Mrs. Oliver.

»Ach«, meinte Mrs. Matcham. »Elefanten vergessen nie. Das ist ein altes Sprichwort.«

8

Mrs. Oliver betrat die Geschäftsräume von Williams & Barnet, einer gut eingerichteten Apotheke, die auch verschiedene kosmetische Artikel führte. Sie betrachtete ein Tischchen mit Hühneraugenmitteln, zögerte bei einem Berg von Gummischwämmen, wanderte unsicher in Richtung Rezeptpult und kam dann zu den elegant dekorierten Schönheitsmitteln, wie sie Elizabeth Arden, Helena Rubinstein, Max Factor und andere Wohltäter der Damenwelt herstellen.

Schließlich blieb sie bei einem etwas plumpen Mädchen stehen, fragte nach einer bestimmten Lippenstiftmarke und stieß einen kleinen Oberraschungsschrei aus.

»Seh' ich recht, Marlene - Sie sind doch Marlene, nicht wahr?«

»Nein, so was! Mrs. Oliver. Ich freu' mich, Sie zu sehen. Wie nett! Die Mädchen werden begeistert sein, wenn ich ihnen berichte, daß Sie hier waren und eingekauft haben.«

»Sie brauchen's ihnen ja nicht zu erzählen!«

»Oh, sie werden sicher ein Autogramm haben wollen.«

»Es wäre mir lieber, wenn sie keins wollten«, erklärte Mrs. Oliver. »Und wie geht es Ihnen, Marlene?«

»Ganz gut.«

»Ich wußte nicht, ob Sie überhaupt noch hier arbeiten.«

»Ach, hier ist es genauso gut wie woanders, finde ich, man wird nett behandelt. Letztes Jahr habe ich eine Gehaltserhöhung gekriegt, und für die Kosmetikabteilung bin ich allein verantwortlich.«

»Was macht Ihre Mutter? Geht's ihr gut?«

»Danke. Sie wird sich freuen, wenn sie erfährt, daß ich Sie getroffen habe.«

»Wohnt sie noch im gleichen Haus unten in der - der Straße hinterm Krankenhaus?« »Aber ja, wir wohnen immer noch dort. Vater ist es nicht so besonders gut gegangen. Er war eine Zeitlang im Krankenhaus, aber Mutter hält sich prächtig. Bleiben Sie länger hier?« »Eigentlich nicht«, sagte Mrs. Oliver. »Ich bin auf der Durchreise. Ich habe eine alte Freundin besucht und überlege ...« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Ist Ihre Mutter jetzt zu Hause, Marlene? Ich könnte auf einen Sprung bei ihr vorbei schauen. Ein paar Worte mit ihr wechseln, bevor ich weiter muß.«

»Ach, tun Sie das doch«, rief Marlene. »Sie wird sich riesig freuen. Ich kann leider nicht weg, man würde es nicht gern sehen. Ich kann nicht einfach eine Stunde verschwinden, wissen Sie.«

»Nun, dann eben ein andermal«, sagte Mrs. Oliver. »Aber ich erinnere mich nicht mehr genau ... war es Nummer 17 oder hat das Haus einen Namen?«

»Es heißt Laurel Cottage.«

»Ach ja, natürlich. Wie dumm von mir. Also, es war wirklich nett, Sie zu sehen.«

Sie eilte hinaus, einen nicht benötigten Lippenstift in der Tasche. Sie fuhr mit ihrem Wagen die Hauptstraße von Chipping Bartram entlang und bog hinter einer Garage und dem Krankenhausgebäude in eine ziemlich schmale Straße ein, die links und rechts von hübschen, kleinen Häusern gesäumt war. Sie ließ den Wagen vor Laurel Cottage stehen und ging zur Haustür. Eine dünne, energisch wirkende Frau mit grauem Haar und um die Fünfzig öffnete. Sie erkannte Mrs. Oliver sofort.

»Sind Sie's wirklich, Mrs. Oliver? Nein, so was! Jahrelang hab' ich Sie nicht gesehen, wahrhaftig.«

»Ja, es ist lange her.«

»Kommen Sie herein, kommen Sie herein. Kann ich Ihnen eine schöne Tasse Tee machen?« »Vielen Dank, nein«, sagte Mrs. Oliver, »ich habe schon bei einer Freundin Tee getrunken und muß bald nach London zurückfahren. Wie es so geht, ich war wegen irgendwas in der Apotheke, und da traf ich Marlene.«

»Ja, sie hat dort einen sehr guten Job. Man hält viel von ihr. Sie hätte soviel Unternehmungsgeist.«

»Das ist fein. Und wie geht's Ihnen, Mrs. Buckle? Sie sehen sehr gut aus. Kaum älter als beim letzten Mal.«

»Oh, das möchte ich nicht sagen. Graue Haare, und abgenommen habe ich auch.«

»Heute ist anscheinend ein Tag, an dem ich lauter alte Freunde treffe«, erzählte Mrs. Oliver, während sie ins Haus gingen und Mrs. Buckle sie in ein kleines, ziemlich vollgestopftes Wohnzimmer führte. »Ich weiß nicht, ob Sie sich an Mrs. Carstairs erinnern - Mrs. Julia Carstairs.«

»Aber natürlich, ja! Sie muß schon ziemlich betagt sein.«

»Das ist sie auch. Wir haben über alte Zeiten geplaudert, wissen Sie. Wir kamen auch auf die Tragödie von damals zu sprechen. Ich war gerade in Amerika, deshalb wußte ich nicht viel darüber. Die Leute hießen Ravenscroft.«

»Ja, daran kann ich mich gut erinnern.«

»Sie haben irgendwann mal bei ihnen gearbeitet, nicht wahr, Mrs. Buckle?«

»Ja, drei Vormittage in der Woche. Es waren sehr nette Leute. Wissen Sie, so richtig vornehm und militärisch. Alte Schule.« »Es war wirklich ein sehr tragisches Ereignis.«

»Ja, das war es wirklich.«

»Haben Sie damals noch bei ihnen gearbeitet?«

»Nein. Da hatte ich die Arbeit schon aufgegeben. Ich mußte mich um meine alte Tante Emma kümmern, sie war fast blind und nicht gesund, ich konnte die Zeit nicht mehr erübrigen. Aber einen oder zwei Monate vorher war ich noch bei ihnen.«

»Daß so was Schreckliches passieren mußte!« sagte Mrs. Oliver. »Soviel ich weiß, dachte man, es sei ein Doppelselbstmord gewesen.« »Das glaube ich nicht!« rief Mrs. Buckle. »Sie hätten niemals gemeinsam Selbstmord begangen, da bin ich sicher. Nicht in dem Alter. Und wie harmonisch sie zusammen lebten. Allerdings wohnten sie noch nicht sehr lange dort.«

»Ja! Soviel ich weiß, nicht«, überlegte Mrs. Oliver. »Sie zogen in die Nähe von Bournemouth, als sie nach England zurückkamen?«

»Ja, aber sie fanden, daß es ein bißchen zu weit von London weg war, und deshalb zogen sie nach Overcliffe. War ein sehr nettes Haus, und ein schöner Garten.«

»Waren beide gesund?«

»Nun, sie haben ihr Alter ein bißchen gespürt, wie die meisten Leute. Der General hatte irgendeine Herzgeschichte oder einen leichten Schlaganfall gehabt. Er mußte Pillen nehmen, wissen Sie, und sich immer wieder mal hinlegen.«