»Sie glauben immer noch, ich sei in der Lage -«
»Nun, ich glaube nicht, daß Sie nach Indien fahren und dort Leute ausfragen sollten. Von denen gibt es doch niemand mehr.«
»Aber Sie könnten mir ein paar Namen nennen?«
»Von den Leuten in Indien nicht.«
»Aber von anderen?«
»Ich will es Ihnen näher erklären. Meiner Ansicht nach gibt es zwei Menschen, die wissen könnten, was tatsächlich geschah, und warum. Denn sie waren damals dort. Sie müssen es wissen, weil sie dabei waren.«
»Sie wollen nicht selbst hingehen?«
»Nun, das könnte ich tun. In gewisser Weise habe ich das auch, aber ich fürchte, wissen Sie, daß man mir - also, ich weiß nicht recht. Ich würde nicht gern die Fragen stellen, auf die ich eine Antwort haben möchte. Celia geht es offenbar genauso. Sie waren beide so nett, und gerade deshalb müßten sie meiner Meinung nach etwas wissen. Nicht weil sie ekelhafte Leute waren, nicht weil sie klatschten, sondern weil sie halfen. Vielleicht halfen sie jemandem aus der Patsche oder versuchten es und schafften es nicht. Ach, ich drücke mich so ungeschickt aus.«
»Nein, gar nicht«, wehrte Poirot ab, »Sie machen Ihre Sache recht gut. Es interessiert mich. Ich glaube, Sie haben etwas ganz Bestimmtes im Auge. Ist Celia Ravenscroft damit einverstanden?«
»Ich habe ihr nicht sehr viel erzählt. Wissen Sie, sie mochte Maddy und Zelie sehr gern.« »Maddy und Zelie?«
»Ja, so heißen sie. Lassen Sie mich erklären! Als Celia noch ein Kind war - damals, als ich sie während der Ferien kennenlernte -, hatte sie ein französisches Au-pair-Mädchen: damals hießen sie noch Gouvernanten. Eine Mademoiselle. Sie war furchtbar nett. Sie spielte mit uns Kindern, und Celia nannte sie einfach Maddy - wie die ganze Familie.«
»Aha. Eine Mademoiselle!«
Ja, und sehen Sie, da Sie doch Franzose oder Belgier sind, dachte ich, sie würde Ihnen vielleicht Dinge erzählen, die sie andern Leuten nicht erzählt.«
»Soso. Und die andere Dame, die Sie erwähnten?«
»Zelie. Auch eine Mademoiselle. Maddy war, glaube ich, ungefähr zwei oder drei Jahre dort und kehrte dann nach Frankreich zurück, oder in die Schweiz. Dann kam die andere. Sie war jünger. Celia nannte sie Zelie. Die ganze Familie nannte sie Zelie. Sie war jung, hübsch und lebenslustig. Wir liebten sie alle schrecklich. Die ganze Familie. Auch General Ravenscroft.« »Und Lady Ravenscroft?«
»Sie mochte Zelie sehr gern, und Zelie sie. Deshalb kam sie ja zurück.«
»Sie kam zurück?«
»Ja, als Lady Ravenscroft im Krankenhaus gewesen war, kam Zelie zurück und pflegte sie. Ich weiß es nicht ganz sicher, aber ich glaube, sie war dort, als es - als die Tragödie passierte. Und deshalb, sehen Sie, müßte sie wissen, was wirklich geschah.«
»Kennen Sie ihre Adresse? Wissen Sie, wo sie wohnt?«
»Ja. Ich habe beide Adressen. Ich dachte, Sie könnten vielleicht hinfahren und sie besuchen. Es ist zwar etwas viel verlangt ... « Er brach ab.
Poirot sah ihn nachdenklich an. Dann meinte er: »Ja, das ist allerdings eine Möglichkeit ... «
11
Chefsuperintendent Garroway sah Poirot über den Tisch hinweg an. Seine Augen funkelten. George servierte ihm einen Whisky mit Soda, ging zu Poirot hinüber und stellte ein mit einer dunkelroten Flüssigkeit gefülltes Glas neben ihn.
»Was trinken Sie denn da?« fragte Garroway interessiert. »Schwarzen Johannisbeersaft.«
»Na ja«, meinte Garroway, »jeder nach seinem Geschmack! Was hat mir Spence erzählt? Daß Sie früher immer tisane tranken? Was ist das, eine Art französisches Klavier, oder was?« »Nein«, sagte Poirot, »es drückt das Fieber herunter.«
»Aha. Rauschgift für Kranke!« Er trank einen Schluck aus seinem Glas. »Also«, prostete er, »auf den Selbstmord!«
»War es Selbstmord?«
»Was denn sonst?« Er schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid«, meinte Poirot, »daß ich Ihnen soviel Mühe mache. Ich bin wie ein Kind oder Tier in einer der Geschichten Ihres Mr. Kipling: Ich leide an unstillbarer Neugierde.« »Unstillbare Neugierde«, sagte Garroway. »Hübsche Geschichten hat er verfaßt, der Kipling. Wußte, wovon er schrieb. Man erzählte mir einmal, daß er eine kurze Besichtigungstour durch einen Zerstörer machen könne und dann genauer über das Schiff Bescheid wisse als die besten Ingenieure der königlichen Marine.«
»Leider«, sagte Hercule Poirot, »weiß ich nicht soviel. Deshalb, verstehen Sie, muß ich Fragen stellen. Ich fürchte, ich habe Ihnen da einen recht langen Fragebogen geschickt.« »Mich beschäftigt«, sagte Garroway, »wie Sie von einer Sache zur anderen springen: Psychiater, ärztliche Protokolle, wer Geld hinterließ, wer Geld hatte, wer Geld bekam. Wer auf Geld hoffte und keins bekam. Einzelheiten über Damenfrisuren, Perücken, Perückenlieferanten - die Dinger kamen übrigens in reizenden rosafarbenen Kartons.«
»Sie wußten über diese Details genau Bescheid«, sagte Poirot. »Das hat mich erstaunt, kann ich Ihnen sagen!«
»Na ja, es war ein rätselhafter Fall, und wir haben natürlich alles genau notiert. Es nützte nicht viel, aber es steht alles in den Akten, falls jemand nachsehen will.«
Er schob ein Blatt über den Tisch.
»Hier. Der Friseur hatte sein Geschäft in der Bond Street. Teure Firma - Eugene and Rosentelle. Später zogen sie um in die Sloane Street. Dies ist die Adresse. Aber jetzt ist es ein Tiergeschäft. Zwei Angestellte wurden übernommen und traten vor ein paar Jahren in den Ruhestand, aber damals waren sie Topleute. Lady Ravenscroft stand auf ihrer Stammkundenliste. Die Rosentelle wohnt jetzt in Cheltenham. Immer noch in derselben Branche. Jetzt nennt sie sich Haarstilistin - das ist das Neueste - und Kosmetikerin. Derselbe Mensch, nur mit einem anderen Hut, hat man in meiner Jugend gesagt.«
»Aha!«
»Wieso, aha?« fragte Garroway.
»Ich bin Ihnen äußerst dankbar«, sagte Hercule Poirot. »Sie haben mich auf eine Idee gebracht. Auf was für merkwürdigen Umwegen man doch manchmal auf die besten Ideen kommt!«
»Sie haben schon viel zu viele«, sagte Garroway. »Das ist eins Ihrer Probleme. Da brauchen Sie nicht noch mehr. Also weiter! Ich habe auch in der Familiengeschichte nachgeforscht -doch da ist nicht viel drin. Alistair Ravenscrofts Vorfahren stammen aus Schottland. Der Vater war Geistlicher, zwei Onkel waren in der Armee, beide sehr angesehen. Er heiratete Margaret Preston-Grey, ein Mädchen aus guter Familie. Keine Skandale. Sie hatten recht, sie hatte eine Zwillingsschwester. Ich weiß nicht, wo Sie das herhaben: Dorothea und Margaret Preston-Grey - allgemein als Dolly und Molly bekannt. Die Preston-Greys lebten in Hatters Green in Sussex. Eineiige Zwillinge, die übliche Geschichte: bekamen zur gleichen Zeit den ersten Zahn, kriegten im gleichen Monat Scharlach, trugen die gleichen Kleider, verliebten sich in dieselbe Art Mann, heirateten ungefähr zur gleichen Zeit, beide Männer waren in der Armee. Der Hausarzt der Familie starb vor ein paar Jahren, so daß da nichts mehr zu holen ist. Aber es gab ein tragisches Ereignis, das mit der einen zusammenhing.«
»Lady Ravenscroft?«
»Nein, mit der anderen. Sie heiratete einen gewissen Captain Jarrow, hatte zwei Kinder: das jüngere, ein vierjähriger Junge, wurde von einem Schubkarren oder einem anderen Kinderspielzeug umgestoßen, schlug sich den Kopf an, fiel in einen Zierteich und ertrank. Anscheinend war das andere Kind, ein neunjähriges Mädchen, schuld. Sie spielten zusammen und stritten, wie Kinder es tun. Es gab kaum Zweifel daran. Aber es existierte noch eine andere -Version. Die Mutter soll es getan haben, sie sei wütend geworden und hätte ihn geschlagen. Andere behaupten, es sei eine Nachbarin gewesen, die ihn hineinstieß. Vermutlich ist dies nicht von Interesse für Sie - hat nichts zu tun mit einem Selbstmordabkommen zwischen der Schwester der Mutter und ihrem Ehemann Jahre später.« »Offenbar nicht«, bestätigte Poirot. »Aber man hört immer gern Hintergrundgeschichten.«