»Ach, diese schreckliche Person. Ich begreife nicht, wieso Sie sie für wichtig halten. Sie hat bloß in alles ihre neugierige Nase gesteckt und will, daß ich für sie die Wahrheit herausfinde.« »Ja. Aber warum will sie das denn? Dieser Punkt kommt mir höchst seltsam vor. Meiner Meinung nach muß man die Ursache herausfinden. Sie ist das Verbindungsglied, wissen Sie.« »Das Verbindungsglied?«
»Ja. Wir wissen nicht, was das für eine Verbindung ist, wo und wie sie besteht. Wir wissen nur, daß sie unbedingt mehr über den Selbstmord herausbringen möchte. Sie ist das Verbindungsglied zwischen Ihrer Patentochter Celia und dem Sohn, der nicht ihr eigener ist.« »Was wollen Sie damit sagen - nicht ihr eigener?«
»Sie hat ihn adoptiert«, antwortete Poirot. »Weil ihr eigener Sohn starb.«
»Wie ist er gestorben? Warum? Wann?«
»Alle diese Fragen habe ich mir schon selbst gestellt. Sie könnte die Verbindung sein ... Es kann eine gefühlsmäßige Bindung bestehen, ein Wunsch nach Vergeltung, es kann Haß dahinterstecken oder irgendeine Liebesaffäre. Jedenfalls muß ich sie kennenlernen. Ich muß mir ein Urteil machen können. Ja! Ich bin überzeugt, daß es wichtig ist.«
Es läutete an der Haustür, und Mrs. Oliver stand auf, um zu öffnen.
»Das könnte Celia sein«, rief sie im Gehen. »Sind Sie sicher, daß es so in Ordnung ist?«
»Was mich betrifft, ja«, sagte Poirot. »Und was Celia betrifft, hoffentlich auch.«
Ein paar Minuten später kam Mrs. Oliver mit Celia Ravenscroft zurück. Celia sah etwas zweifelnd, ja mißtrauisch drein. »Ich weiß nicht recht«, sagte sie, »ob ich ... « Sie schwieg und starrte Hercule Poirot an.
»Ich möchte dir jemanden vorstellen«, sagte Mrs. Oliver, »der mir eine große Hilfe ist und, wie ich hoffe, auch dir. Dies ist Monsieur Hercule Poirot, ein Genie auf dem Gebiet der Kriminalistik.«
»Oh«, sagte Celia.
Zweifelnd beäugte sie die kleine Gestalt mit dem eiförmigen Kopf und dem gewaltigen Schnurrbart.
»Ich glaube«, sagte sie zögernd, »daß ich schon von ihm gehört habe. «
Hercule Poirot konnte sich gerade noch zurückhalten. Sonst hätte er gesagt: »Die meisten Leute haben schon von mir gehört.« Obwohl es jetzt nicht mehr ganz zutraf, da viele Leute, die von ihm gehört oder ihn gekannt hatten, nun unter einem Grabstein auf dem Friedhof ruhten.
»Setzen Sie sich, Mademoiselle!« sagte er nur. »Ich will Ihnen eines verraten: Wenn ich eine Untersuchung anfange, führe ich sie bis zum Ende durch. Ich werde die Wahrheit ans Licht befördern, und wenn es wirklich die Wahrheit ist, die Sie wissen wollen, dann werde ich sie herausbringen. Aber es könnte sein, daß Sie nur Beruhigung wollen. Das ist nicht dasselbe. Ich kann verschiedene Aspekte finden, die Sie beruhigen könnten. Wären Sie damit zufrieden? Wenn ja, sollten Sie besser nicht mehr verlangen.«
Celia setzte sich auf den Stuhl, den er ihr hingeschoben hatte, und sah ihn ernst an. »Sie glauben nicht, daß ich die Wahrheit wissen will?«
»Ich glaube«, antwortete Poirot, »daß die Wahrheit ein Schock ist, daß sie Ihnen Kummer bereiten könnte und Sie möglicherweise sagen: >Warum hab' ich das alles nicht ruhen lassen? Warum wollte ich die Wahrheit wissen, da ich doch nichts mehr tun kann? Mein Vater und meine Mutter haben Selbstmord begangen - doch ich liebe sie trotzdem.< Es ist keine schlechte Sache, seine Eltern zu lieben.«
»Obwohl man das heutzutage manchmal zu denken scheint«, warf Mrs. Oliver ein. »Sozusagen ein neuer Glaubensartikel.« »Es quälte mich schon länger«, sagte Celia. »Ich fing an nachzudenken. Ich schnappte so merkwürdige Sachen auf, von Leuten, die mich manchmal ziemlich mitleidig ansahen. Andere wieder waren neugierig. Man fängt an, Dinge zu entdecken, über Leute, die man trifft, die man kennt, die die Familie gekannt haben. Ich möchte nicht so weiterleben. Sie glauben, es , sei mir nicht richtig ernst damit, aber ich will wirklich die Wahrheit wissen. Ich kann mit ihr fertig werden! - Sie haben Desmond gesehen, nicht wahr?« fragte sie übergangslos. »Er hat Sie aufgesucht. Er erzählte es mir!«
»Ja. Er war bei mir. Sollte er das nicht?« »Er hat mich nicht gefragt.«
»Und wenn er Sie gefragt hätte?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich es ihm hätte verbieten oder ob ich ihn hätte ermutigen sollen.«
»Ich würde Ihnen gern eine Frage stellen, Mademoiselle. Ich möchte wissen, ob es in Ihrem Herzen etwas gibt, das Ihnen mehr bedeutet als alles andere.«
»Was meinen Sie damit?«
»Wie Sie sagten, hat mich Desmond Burton-Cox besucht. Ein sehr attraktiver und liebenswerter junger Mann. Es war ihm sehr ernst mit dem, was er sagte, sehr ernst. Und das ist nun das Wichtige. Wollen Sie wirklich heiraten? Wenn ja - welchen Unterschied kann es für Desmond oder Sie bedeuten, ob es ein gemeinsamer Selbstmord war oder etwas ganz anderes?«
»Sie glauben, daß es tatsächlich etwas anderes war?«
»Ich weiß es noch nicht«, sagte Poirot. »Aber ich habe Grund zu der Annahme, daß es möglich ist. Es gibt verschiedene Punkte, die sich nicht mit der Theorie eines Doppelselbstmordes vereinbaren lassen. Aber die Polizei ist sehr genau, Mademoiselle Celia, sehr genau. Sie hat alles Beweismaterial zusammengetragen und festgestellt, daß es nur gemeinsamer Selbstmord gewesen sein kann.«
»Aber man hat nie ein Motiv gefunden, das meinen Sie doch?«
»Ja«, gab Poirot zu, »das meine ich.«
»Und Sie kennen den Grund auch nicht?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Poirot. »Ich fürchte, es könnte etwas sehr Schmerzliches dabei herauskommen, und deshalb frage ich Sie, ob Sie nicht lieber Vergangenes vergangen sein lassen wollen. Da ist ein junger Mann, den Sie gern haben und der Sie gern hat. Ihnen geht es doch um die Zukunft, nicht um die Vergangenheit.«
»Erzählte er Ihnen, daß er ein adoptiertes Kind ist?«
»Ja.«
»Sagen Sie selber, was geht sie das eigentlich an? Warum geht sie zu Mrs. Oliver und belästigt sie mit ihren Fragen? Sie ist nicht seine leibliche Mutter.«
»Mag er sie?«
»Nein«, antwortete Celia. »Im ganzen gesehen, würde ich sagen, lehnt er sie ab. Er mochte sie noch nie.« »Sie hat Geld für ihn ausgegeben, für die Schule, für seinen Unterhalt und so weiter. Glauben Sie denn, sie hängt an ihm?«
»Ich glaube, nicht. Ich glaube, sie wollte einfach ein Kind haben anstelle ihres eigenen. Ihr Kind war bei einem Unfall umgekommen, und deshalb wollte sie eines adoptieren. Ihr Mann war kurz vorher gestorben. Alle diese Daten zu behalten ist so schwierig.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber etwas möchte ich gern erfahren.«
»Ja, bitte?«
»Ist er finanziell unabhängig?«
»Ich weiß nicht genau, was Sie damit meinen. Er kann bestimmt für mich sorgen, für eine Frau sorgen. Soviel ich weiß, wurde ihm bei der Adoption etwas Geld überschrieben. Eine , ausreichende Summe. Natürlich kein Vermögen.«
»Könnte sie keine finanziellen Druckmittel ausüben?«
»Sie meinen, ihm das Geld sperren, wenn er mich heiratet? Ich glaube nicht, daß sie damit gedroht hat oder daß sie's überhaupt könnte. Das ist sicher alles von den Ämtern bei der Adoption geregelt worden. Die machen da einen Riesenwirbel, soviel ich weiß.«
»Noch etwas möchte ich Sie fragen, was außer Ihnen vielleicht niemand weiß. Eventuell noch Mrs. Burton-Cox. Wer war seine wirkliche Mutter?«
»Glauben Sie, das könnte einer der Gründe für ihre Schnüffelei sein? Keine Ahnung. Möglicherweise war er unehelich. Diese Kinder werden doch meistens zur Adoption freigegeben, nicht? Sie könnte über seine wirkliche Mutter oder seinen Vater etwas wissen. Aber dann hat sie's ihm nicht erzählt. Soviel ich weiß, hat sie ihm nur das übliche Zeug erzählt, was man so sagt. Daß es genauso schön ist, adoptiert zu sein, weil es ein Beweis ist, daß man sich das Kind wirklich gewünscht hat, und so weiter. Eine Menge dummes Geschwätz.«