Wieder läutete es an der Haustür. Poirot und Mrs. Oliver sahen sich an.
»Also«, sagte Mrs. Oliver, »auf in den Kampf.«
Sie verließ das Zimmer. Poirot hörte Begrüßungsworte aus dem Flur dringen, und kurz darauf führte Mrs. Oliver Mrs. Burton-Cox herein.
»Wie entzückend Sie wohnen«, rief Mrs. Burton-Cox aus. »Zu nett von Ihnen, daß Sie sich von Ihrer wertvollen Zeit etwas abgeknapst und mich eingeladen haben.« Sie schoß einen Seitenblick auf Hercule Poirot ab. Ein leicht überraschter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. Einen Augenblick schweiften ihre Augen von Poirot zu dem Stutzflügel, der an einem Fenster stand. Mrs. Oliver vermutete, daß Mrs. Burton-Cox Hercule Poirot für den Klavierstimmer hielt. Sie beeilte sich, das richtigzustellen.
»Darf ich Ihnen Monsieur Hercule Poirot vorstellen?« sagte sie.
Poirot beugte sich über Mrs. Burton-Cox' Hand.
»Ich glaube, er ist der einzige Mensch, der Ihnen helfen kann, meine Liebe. Sie wissen schon, bezüglich meinem Patenkind Celia Ravenscroft.«
»Ach ja, wie freundlich von Ihnen, sich daran zu erinnern. Ich hoffe so sehr, daß Sie mir ein bißchen mehr über das, was wirklich geschah, berichten können.«
»Ich war leider nicht sehr erfolgreich«, antwortete Mrs. Oliver, »und das ist auch der Grund, warum ich Monsieur Poirot hergebeten habe. Er ist großartig, einer der besten in seinem Beruf. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie vielen Freunden er schon geholfen und wie viele Geheimnisse er schon aufgeklärt hat. Und die Geschichte damals war so tragisch.«
»Ja, wahrhaftig«, sagte Mrs. Burton-Cox. Ihre Augen schauten immer noch zweifelnd drein. Mrs. Oliver bat sie, Platz zu nehmen.
»Was darf ich Ihnen anbieten?« fragte sie. »Ein Glas Sherry? Für Tee ist es wohl zu spät. Oder hätten Sie lieber einen Cocktail?«
»Ein Glas Sherry, bitte. Sehr freundlich.«
»Monsieur Poirot?«
»Ich auch.«
Mrs. Oliver war aufrichtig froh, daß er nicht um Sirop de Cassis oder eines seiner geliebten Fruchtsaftgetränke gebeten hatte. Sie brachte Gläser und eine Karaffe.
»Ich habe Monsieur Poirot bereits in groben Zügen die Nachforschungen, die Sie wünschen, angedeutet.«
»Ach ja!« sagte Mrs. Burton-Cox. Sie schien ziemlich im Zweifel und nicht so selbstsicher wie sonst zu sein.
»Heutzutage«, sagte sie zu Poirot, »sind die jungen Leute so schwierig. Mein Sohn ist ein so lieber junge; wir haben große Hoffnungen auf ihn gesetzt. Und dann dieses Mädchen, ganz reizend. Sicher sagte Mrs. Oliver Ihnen, daß sie ihre Patentochter ist ... tja, man kann nie wissen. Ich meine, solche Freundschaften entstehen plötzlich und dauern oft nicht lange. Früher, in meiner Jugend, haben wir so was Kälberliebe genannt, wissen Sie. Aber es ist doch sehr wichtig, daß man ein klein wenig über die Leute Bescheid weiß, über die Familie und so weiter. Natürlich weiß ich, daß Celia aus sehr guter Familie kommt, aber trotzdem, da war diese tragische Geschichte. Zwei Selbstmorde, glaube ich, aber niemand konnte mir bisher klar sagen, was dazu führte. Ich habe keine Freunde, die auch mit den Ravenscrofts befreundet waren, und so ist es sehr schwierig, sich ein Bild zu machen. Selbstverständlich, Celia ist ein reizendes Mädchen, aber trotzdem, man möchte doch Genaues wissen.«
»Wie ich von meiner Freundin, Mrs. Oliver, höre, möchten Sie etwas ganz Bestimmtes erfahren. Wer ... «
»Mrs. Burton-Cox«, mischte sich Mrs. Oliver ziemlich bestimmt ein, »will wissen, ob Celias Vater ihre Mutter und dann sich selbst erschoß oder ob Celias Mutter ihren Mann umbrachte und sich anschließend erschoß.«
»Ich finde, das ist ein Unterschied«, sagte Mrs. Burton-Cox. »Ein großer Unterschied.«
»Ein sehr interessanter Standpunkt«, meinte Poirot. Sein Ton klang nicht gerade ermutigend. »Der emotionelle Hintergrund interessiert mich, die Gefühle, die mitspielten. In einer Ehe, das müssen Sie zugeben, muß man an die Kinder denken. Ich meine die Vererbung. Heute weiß man doch, daß die Vererbung eine größere Rolle spielt als die Umwelt. Sie beeinflußt die Charakterbildung und bestimmt eventuelle Risiken, die man vielleicht nicht auf sich nehmen möchte.«
»Sehr wahr«, sagte Poirot. »Die Leute, die solche Risiken auf sich nehmen, müssen das auch entscheiden. Ihr Sohn und diese junge Dame - es ist ihre Entscheidung.«
»Ich weiß, ich weiß. Nicht die meine. Eltern sollen sich nicht einmischen, nicht wahr, nicht einmal einen Rat geben. Aber ich möchte eben Genaueres erfahren, jawohl, ich möchte Bescheid wissen. Ob Sie wohl eine Untersuchung - so heißt das, glaube ich - durchführen könnten? Aber möglicherweise bin ich eine sehr dumme Mutter, übermäßig um meinen Sohn besorgt. Mütter sind eben so.«
Sie neigte den Kopf etwas auf die Seite und gab ein kleines wieherndes Lachen von sich. »Vielleicht«, sagte sie und leerte das Sherryglas, »vielleicht wollen Sie es sich noch überlegen, und auch ich überlege es mir noch. Man müßte die genauen Fragen und Details, um die ich mir Sorgen mache, besprechen.« Sie sah auf ihre Uhr.
»Ach, du meine Güte! Ich habe noch eine Verabredung. Ich muß gehen. Es tut mir so leid, liebe Mrs. Oliver, daß ich gleich wieder weglaufe, aber Sie wissen ja, wie das ist. Ich hatte heute nachmittag die größten Schwierigkeiten, ein Taxi zu kriegen. Alle fuhren vorbei. Ach ja, so was ist wirklich lästig. Mrs. Oliver hat doch Ihre Adresse, nicht wahr?«
»Ich gebe sie Ihnen«, sagte Poirot, nahm eine Visitenkarte aus seiner Tasche und reichte sie ihr.
»Ach ja, ja. Sie sind Monsieur Hercule Poirot. Sie sind Franzose?«
»Belgier.«
»Ach ja, Belgier! Ja, ja. Ich verstehe. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, und ich bin voller Hoffnung. Meine Güte, jetzt muß ich aber ganz, ganz schnell gehen.«
Sie schüttelte Mrs. Oliver warm die Hand, dann Poirot und verließ das Zimmer. Kurz darauf schlug die Haustür zu.
»Also, was sagen Sie dazu?« rief Mrs. Oliver. »Was meinen Sie?«
»Sie ist weggelaufen«, empörte sich Mrs. Oliver. »Einfach davongelaufen. Sie haben sie erschreckt.«
»Ja«, antwortete Poirot. »Ich glaube, das haben Sie ganz richtig gesehen.«
»Sie wollte, daß ich Celia aushorche, über eine Art Geheimnis, das sie da vermutet, aber eine wirklich genaue Untersuchung will sie nicht, oder?«
»Offenbar«, sagte Poirot. »Interessant. Sehr interessant. Sie ist doch gutsituiert, glauben Sie nicht?«
»Möchte ich annehmen. Ihre Garderobe ist kostspielig, sie wohnt in einer teuren Gegend ... es ist schwer zu sagen. Sie gehört zu den Frauen, die immer was wollen und einen herumkommandieren. Sie sitzt in einem Haufen von Komitees. Es ist nichts verdächtig an ihr, meine ich. Ich habe ein paar Leute gefragt, niemand mag sie besonders. Aber sie ist eine aktive Person, die sich für Öffentlichkeitsarbeit interessiert, für Politik und solche Sachen.« »Was stimmt dann nicht mit ihr?« fragte Poirot.
»Sie finden, irgend etwas ist mit ihr nicht in Ordnung? Oder mögen Sie sie bloß nicht, so wie ich?«
»Ich glaube, sie hat etwas zu verbergen und möchte nicht, daß es ans Licht kommt«, erklärte Poirot.
»Aha. Und werden Sie es herausfinden?«
»Natürlich, wenn ich kann. Es wird nicht leicht sein. Sie ist auf dem Rückzug. Sie war auf dem Rückzug, als sie von hier wegging. Sie fürchtete sich vor den Fragen, die ich ihr stellen wollte. Ja. Sehr interessant.« Poirot seufzte. »Wir werden noch weiter zurückgehen müssen, als wir dachten.«
»Was, wieder eine Reise in die Vergangenheit?«
»Ja. In mehr als einem Fall gibt es einen Punkt in der Vergangenheit, den man herausbekommen muß, ehe man zum Geschehen selbst zurückkehren kann. Und was wäre das? Ja, es ist fünfzehn Jahre her, zwanzig Jahre, die Szene spielt in einem Haus in Overcliffe. Ja. Wir müssen wieder zurückspielen.«