»Ich weiß, was Sie meinen.«
Zum ersten Mal änderte sich ihr Verhalten ein wenig. Sie war nicht länger auf der Hut, sie beugte sich vor und antwortete, als ob das Sprechen eine große Erleichterung für sie wäre. »Beide waren sehr hübsch«, begann sie. »Das habe ich von vielen Leuten gehört. General Ravenscroft verliebte sich in Dolly, die geistesgestörte Schwester. Wenn sie auch nicht ganz normal war, so war sie doch überaus attraktiv - sinnlich. Er liebte sie sehr, doch dann entdeckte er wohl irgend etwas, das ihn beunruhigt haben muß oder abstieß. Vielleicht erkannte er den beginnenden Wahnsinn, die damit verbundenen Gefahren. Er wandte sich ihrer Schwester zu. Er verliebte sich in sie und heiratete sie.«
»Sie meinen, er liebte sie beide. Nicht zur gleichen Zeit, aber jedesmal war es echte Liebe.« »Ja. Er war Molly sehr ergeben, verließ sich ganz auf sie. Er war ein sehr liebenswerter Mann.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Poirot, »aber ich glaube, auch Sie haben ihn geliebt.«
»Sie - wie können Sie es wagen, so etwas zu sagen?«
»Ich will damit nicht andeuten, daß Sie eine Affäre hatten, absolut nicht. Ich sage nur, daß Sie ihn geliebt haben.«
»Ja«, gab Zelie Meauhourat zu. »Ich habe ihn geliebt. In gewissem Sinn liebe ich ihn noch. Es ist nichts, weswegen ich mich schämen müßte. Er vertraute mir und verließ sich auf mich, aber er hat mich nie geliebt. Man kann lieben und dienen, und dabei glücklich sein. Mehr hab' ich nicht gewollt. Vertrauen, Sympathie ... «
»Und«, unterbrach sie Poirot, »Sie taten, was Sie konnten, um ihm in einer schrecklichen Krise seines Lebens zu helfen. Gewisse Dinge wollen Sie mir nicht verraten. Aber ich möchte Ihnen von meiner Theorie erzählen, die auf bestimmten Informationen basiert. Bevor ich Sie besuchte, habe ich manches gehört, von Leuten, die nicht Lady Ravenscroft allein, sondern auch Dolly kannten. Und ich weiß einiges von Dolly und der Tragödie ihres Lebens, von ihrem Kummer, ihrem Unglück und auch von dem Haß, dem Stückchen Bösen, dem Hang zur Zerstörung, die sich in einer Familie weitervererben können. Wenn sie den Mann liebte, mit dem sie verlobt war, muß sie, als er ihre Schwester heiratete, Haß gegen diese Schwester empfunden haben. Vielleicht hat sie ihr nie ganz verziehen. Aber was war mit Molly Ravenscroft? Stieß ihre Schwester sie ab? Haßte sie sie?«
»Aber nein«, antwortete Zelie Meauhourat, »sie liebte ihre Schwester, mit großer beschützender Liebe. Das weiß ich genau. Sie wollte immer, daß Dolly bei ihnen leben sollte. Sie wollte ihrer Schwester helfen, sie vor sich selbst retten. Sie hatte oft entsetzliche Wutanfälle. Manchmal hatte Molly Angst. Nun, Sie sagten ja schon, daß Dolly eine merkwürdige Abneigung gegen Kinder hatte.«
»Sie meinen, sie mochte Celia nicht?«
»Nein, nein, nicht Celia! Edward! Zweimal hatte Edward beinahe einen Unfall. Einmal hatte sie an einem Wagen herumgefingert, ein andermal hatte sie einen Wutausbruch. Ich weiß, daß Molly froh war, als Edward wieder zur Schule zurückmußte. Er war sehr jung, viel jünger als Celia. Höchstens acht oder neun. Und so sensibel. Molly hatte Angst um ihn.«
>Ja, das kann ich verstehen. Seltsam ist auch die Sache mit den Perücken. Vier Stück - das sind reichlich viele. Ich weiß, wie sie aussahen, daß eine Französin nach London fuhr und sie bestellte. Es gab auch einen Hund. Einen Hund, den General und Lady Ravenscroft an jenem Unglückstag auf den Spaziergang mitnahmen. Kurze Zeit vorher hatte dieser Hund sein Frauchen - Molly Ravenscroft - gebissen.«
»Hunde sind nun mal so«, meinte Zelie Meauhourat. »Man darf ihnen nie ganz trauen.«
»Ich werde Ihnen jetzt erzählen, was sich meiner Ansicht nach an jenem Tag ereignete und was sich vorher ereignete, einige Zeit vorher.«
»Und wenn ich Ihnen nicht zuhören möchte?«
»Sie werden mir zuhören. Danach können Sie mir sagen, daß meine Theorie falsch ist. Ja, dazu wären Sie vielleicht wirklich imstande, obwohl ich es nicht annehme. Glauben Sie mir, was wir brauchen, ist die Wahrheit! Keine Vermutungen oder Spekulationen. Celia und der junge Mann lieben sich und haben Angst vor der Zukunft, weil sie nicht wissen, was damals wirklich geschah, ob Celia durch ihren Vater oder ihre Mutter erblich belastet ist. Celia ist ein rebellisches Mädchen, begabt, vielleicht etwas schwierig, aber intelligent, vernünftig, gefühlvoll, mutig. Und sie braucht - wie manche Menschen - die Wahrheit. Weil sie die Wahrheit ertragen können. Sie nehmen die Wahrheit mit jener mutigen Bereitschaft an, die man braucht, wenn man ein gutes Leben will. Und der junge Mann, den sie liebt, ist ganz auf ihrer Seite. Wollen Sie mir zuhören?«
»Ja«, antwortete Zelie Meauhourat, »ich werde Ihnen zuhören. Sie sind sehr klug, glaube ich, und wissen mehr von der ganzen Tragödie, als ich ahnte. Sprechen Sie!«
20
Hercule Poirot stand auf den Klippen, sah hinunter zu den Felsen und beobachtete, wie sich die Wellen an ihnen brachen. Hier hatte man die beiden Leichen gefunden. Und hier war ein paar Wochen vorher die Schwester hinuntergestürzt.
»Warum ist es passiert?« hatte Chefsuperintendent Garroway gefragt.
Ja, warum? Was war das Motiv?
Ein Unfall - und ein paar Wochen später zwei Selbstmorde. Alte Sünden, die lange Schatten werfen ... Vor langer Zeit hatte alles begonnen, und Jahre später kam das tragische Ende.
Heute würden sich hier ein paar Menschen treffen: Ein junger Mann und ein Mädchen, die die Wahrheit wissen wollten. Und zwei Leute, die sie kannten.
Hercule Poirot wandte sich vom Meer ab und ging den schmalen Pfad zurück. Bis zum Haus war es nicht weit. Ein Wagen stand an der Gartenmauer, die Umrisse des Hauses hoben sich gegen den Himmel ab. Es war unbewohnt und mußte neu gestrichen werden. Das Schild eines Maklers hing am Tor, daß es zu verkaufen sei. Zwei Menschen kamen Poirot entgegen, Desmond Burton-Cox und Celia Ravenscroft.
»Ich habe vom Makler einen Brief bekommen«, sagte Desmond, »wir können uns das Haus anschauen. Ich habe den Schlüssel, falls wir hineingehen wollen. Es hat in den letzten fünf Jahren zweimal den Besitzer gewechselt ... Jetzt dürfte wohl kaum noch was zu finden sein, oder?«
»Ich kann's mir nicht vorstellen«, meinte Celia. »Schließlich hat es ja danach schon verschiedenen Leuten gehört. Sie fanden es alle zu einsam. Und jetzt verkauft es der Besitzer wieder. Vielleicht spukt es.«
»Glaubst du wirklich an so was?« fragte Desmond.
»Na ja, eigentlich nicht. Aber hier wär's möglich, nicht? Nach allem, was passiert ist, und so, wie es jetzt aussieht ... «
»Das finde ich nicht«, mischte sich Poirot ein. »Hier gab es Leid und Tod, aber auch Liebe.« Ein Taxi kam die Straße entlang.
»Das ist vermutlich Tante Ariadne«, sagte Celia. »Sie wollte mit dem Zug fahren und am Bahnhof ein Taxi nehmen.«
Zwei Frauen stiegen aus, Mrs. Oliver und eine große, elegante Person. Poirot, der von ihrem Kommen wußte, war nicht überrascht. Er beobachtete Celia.