Da lief Celia auf die Frau zu und rief mit strahlendem Gesicht: »Zelie! Ja, das ist tatsächlich Zelie! Aber ich - ich wußte gar nicht -«, sie schwieg, drehte sich um und sah Desmond an. »Desmond, warst du das?«
»Ja. Ich schrieb Mademoiselle Meauhourat - Zelie, wenn ich sie noch so nennen darf.«
»Ihr könnt mich immer so nennen, ihr beide«, meinte Zelie. »Ich bin mir nicht sicher, ob es klug von mir war, zu kommen, aber ich hoffe es.«
»Ich möchte die Wahrheit wissen«, erklärte Celia. »Wir beide möchten sie wissen. Desmond dachte, du könntest uns helfen.«
»Monsieur Poirot hat mich besucht«, sagte Zelie. »Er überredete mich, herzukommen.«
Celia hängte sich bei Mrs. Oliver ein. »Ich wollte, daß du auch dabei bist, Tante Ariadne, weil du die Sache ins Rollen brachtest, nicht wahr? Du hast Monsieur Poirot dazugekriegt, mitzumachen und selbst soviel unternommen.«
»Ja. Ein paar Leute haben mir was erzählt«, sagte Mrs. Oliver, »von denen ich dachte, sie erinnerten sich noch. Vieles stimmte, und vieles war falsch. Das war sehr verwirrend. Aber Monsieur Poirot meinte, das sei nicht wirklich wichtig.«
»Nun«, antwortete Poirot, »es ist genauso wichtig wie zwischen Hörensagen und Tatsachen unterscheiden zu können. Was Sie für mich herausbekommen haben, Madame, von den Elefanten ... « Er lächelte.
»Wieso Elefanten?« fragte Mademoiselle Zelie. »So nennt sie sie«, sagte Poirot.
»Elefanten vergessen nie«, erklärte Mrs. Oliver. »Das war die Idee, mit der alles anfing. Die Menschen können sich an Dinge erinnern, die weit zurückliegen, genau wie die Elefanten. Nicht alle Menschen selbstverständlich, aber normalerweise können sie sich wenigstens an etwas erinnern. Einen großen Teil von dem, was ich erfuhr, gab ich an Monsieur Poirot weiter, er hat eine Methode ... also, wenn er Arzt wäre, würde ich es als Diagnose bezeichnen.«
»Ich stellte eine Liste auf«, erklärte Poirot. »Über alle Punkte, die mir auf das hinzudeuten schienen, was damals tatsächlich geschah. Ich werde Ihnen die einzelnen Punkte vorlesen, damit Sie, die Beteiligten, feststellen können, ob sie von Bedeutung sind oder nicht. Vielleicht verstehen Sie den Sinn nicht, vielleicht jedoch begreifen Sie ihn genau.«
»Ich möchte wissen«, sagte Celia, »ob es Selbstmord war oder Mord. Hat jemand - ein Außenstehender - meinen Vater und meine Mutter aus einem uns unbekannten Grund getötet, aus einem bestimmten Motiv heraus? Ich werde immer glauben, daß es so war. Es ist schwierig, aber ... « »Wir wollen hier draußen bleiben«, sagte Poirot, »und noch nicht ins Haus gehen. Dort haben inzwischen andere Leute gewohnt, es hat jetzt eine veränderte Atmosphäre. Vielleicht entscheiden wir uns anders, wenn wir mit unserer Untersuchung fertig sind.«
»Es ist also eine Art Untersuchung?« fragte Desmond. »Ja. Über das, was damals tatsächlich geschah.«
Poirot ging auf ein paar Eisenstühle zu, die im Schatten einer Magnolie standen, und nahm einen beschriebenen Bogen Papier aus seiner Mappe.
»Sie wollen eine endgültige Antwort, Celia, ob es Selbstmord war oder Mord«, begann er. »Eins von beiden muß es ja gewesen sein«, antwortete Celia.
»Und ich sage Ihnen, daß es beides war und noch mehr. Wenn mein Verdacht stimmt, haben wir hier nicht nur einen Mord und einen Selbstmord, sondern noch etwas anderes, das ich einmal als Exekution bezeichnen möchte, und eine Tragödie. Die Tragödie zweier Menschen, die sich liebten und für ihre Liebe gestorben sind. Es gibt nicht nur bei Romeo und Julia eine Liebestragödie, nicht nur junge Menschen leiden an der Liebe und sind bereit, für sie zu sterben. Nein!«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Celia.
»Noch nicht! Am besten erzähle ich Ihnen jetzt, was meiner Meinung nach geschah und wie ich dahinterkam. Als erstes fiel mir auf, daß verschiedene, von der Polizei ermittelte Beweise nicht zu erklären waren. Manches ganz alltägliche Dinge, eigentlich überhaupt keine Beweise. Zum Beispiel die vier Perücken der toten Margarert Ravenscroft.« Poirot wiederholte: »Vier Perücken.« Er sah Zelie an.
»Sie trug nicht immer eine Perücke«, mischte Zelie sich ein. »Nur gelegentlich. Wenn sie verreiste, oder wenn sie nicht beim Friseur war und rasch wieder ordentlich aussehen wollte. Manchmal trug sie eine Abendperücke.«
»Jedenfalls«, sagte Poirot, »schienen mir vier Perücken reichlich viel. Ich überlegte, warum sie so viele brauchte. Laut Polizeiprotokoll hatte sie keine Glatze, sie hatte normales Hiar, es war in gutem Zustand. Eine der Perücken hatte eine graue Strähne, wie ich später erfuhr. Ihre Friseuse erzählte mir das. Eine andere Perücke bestand aus lauter kleinen Löckchen. Sie trug sie an ihrem Todestag.«
»Ist das von Bedeutung?« fragte Celia. »Sie könnte doch irgendeine aufgehabt haben.« »Möglich. Außerdem erfuhr ich, daß die Haushälterin der Polizei berichtet hatte, daß sie gerade diese Perücke die letzten Wochen vor ihrem Tod fast ständig getragen hatte. Offenbar mochte sie sie besonders.«
»Ich begreife einfach nicht ... «
»Dann das Sprichwort, das Chefsuperintendent Garroway erwähnte: Derselbe Mensch -anderer Hut. Es machte mich stutzig.«
»Ich verstehe wirklich nicht -«, protestierte Celia.
»Außerdem, der Hund«, fuhr Poirot unbeirrt fort. »Auch ein Beweis -«
»Ein Hund?«
»Der Hund hat sie gebissen. Der Hund soll sehr an seinem Frauchen gehangen haben - aber in den letzten Wochen ihres Lebens hat er sie mehrmals angefallen und ziemlich heftig gebissen.«
»Wollen Sie damit sagen, er wußte, daß sie Selbstmord begehen würde?« fragte Desmond erstaunt.
»Nein, viel einfacher -«
»Wieso ... «
»Nein«, sagte Poirot, »er wußte, was sonst niemand zu wissen schien. Er wußte, daß es nicht sein Frauchen war. Sie sah aus wie sie - die Haushälterin, die schlechte Augen hatte und schwerhörig war, beschrieb eine Frau, die Molly Ravenscrofts Kleider trug und die auffälligste Perücke, die mit den vielen Löckchen. Die Haushälterin sagte aus, daß Lady Ravenscroft in den letzten Wochen ihres Lebens ziemlich verändert gewesen sei ... >Gleicher Mann - anderer Hut<, wie Garroway sagte. Und plötzlich kam mir ein Gedanke: dieselbe Perücke, aber eine andere Frau. Der Hund wußte es, weil seine Nase es ihm verriet. Eine andere Frau, nicht die Frau, die er liebte, sondern verabscheute und fürchtete. Nun überlegte ich: angenommen, diese Frau war nicht Molly Ravenscroft - wer konnte sie dann sein? Etwa Dolly, die Zwillingsschwester?«
»Aber das ist doch unmöglich!« rief Celia.
»Nein, ganz und gar nicht. Schließlich waren sie eineiige Zwillinge. Nun muß ich auf die Punkte zu sprechen kommen, auf die mich Mrs. Oliver hinwies und die ihr ihre >Elefanten< erzählten oder andeuteten ... Daß Lady Ravenscroft im Krankenhaus gewesen war und geglaubt hatte, sie litte an Krebs. Der medizinische Befund spricht allerdings dagegen. Trotzdem kann sie es gedacht haben. Nach und nach erfuhr ich ihre Lebensgeschichte und die ihrer Zwillingsschwester. Sie hatten sich sehr gern gehabt, wie es bei Zwillingen häufig vorkommt. Sie trugen die gleichen Kleider, erlebten die gleichen Dinge, waren zur gleichen Zeit krank, heirateten ungefähr zur gleichen Zeit. Aber wie bei vielen Zwillingen, wollten sie schließlich nicht mehr gleich sein, im Gegenteil. Sie wollten sich so unähnlich sein wie möglich. Und zwischen ihnen entstand eine gewisse Abneigung. Mehr noch. Es gab einen wichtigen Grund. Als junger Mann verliebte sich Alistair Ravenscroft in Dorothea Preston-Grey, den älteren Zwilling. Aber dann wandte er sich der Schwester zu, Margaret, und heiratete sie. Zweifellos kam da die Eifersucht ins Spiel, die zu einer Entfremdung zwischen den Schwestern führte. Margaret mochte ihre Schwester nach wie vor sehr gern, aber Dorothea empfand nichts mehr für sie. Das scheint mir viele Dinge zu erklären. Dorothea war eine tragische Gestalt. Nicht aus eigenem Verschulden, sondern aus Gründen der Vererbung, der Geburt, sie war nie geistig ganz normal gewesen. Aus bisher ungeklärten Gründen hatte sie eine Abneigung gegen Kinder. Es spricht alles dafür, daß ein Kind durch sie den Tod fand. Die Beweise waren nicht definitiv, genügten aber, um sie in psychiatrische Behandlung zu geben. Sie war jahrelang in einer Irrenanstalt. Als man sie als gesund entließ, nahm sie ihr normales Leben wieder auf, besuchte häufig ihre Schwester und reiste auch nach Indien, als die Ravenscrofts dort stationiert waren. Und dort ereignete sich wieder ein Unfall. Ein Nachbarskind. Und wieder scheint es, obwohl die Beweise fehlten, als ob Dorothea dafür verantwortlich gewesen war. Sie kehrte nach England zurück und kam wieder in ärztliche Obhut. Und wieder schien sie geheilt und wurde entlassen. Margaret glaubte, daß diesmal alles in Ordnung war. Aber ich vermute, General Ravenscroft war überzeugt, daß sie weiterhin geisteskrank war und diese Geisteskrankheit von Zeit zu Zeit wieder aufflackern konnte und sie laufend überwacht werden mußte, damit nicht noch mehr passierte.«