»Wollen Sie damit sagen«, fragte Desmond, »daß sie es war, die die Ravenscrofts erschoß?« »Nein«, antwortete Poirot, »das ist nicht die Lösung. Ich glaube aber, daß Dorothea ihre Schwester tötete. Als sie auf den Klippen spazierengingen, stieß Dorothea Margaret hinunter. Die latente Besessenheit von Haß und Abneigung gegen die Schwester, die, obwohl ihr so ähnlich, geistig und körperlich gesund war, ertrug sie nicht mehr. Haß, Eifersucht, das Verlangen zu töten, kamen an die Oberfläche und beherrschten sie. Ich glaube, es gab einen Außenstehenden, der das alles wußte, der zur Zeit des Geschehens bei den Ravenscrofts war. Sie wußten Bescheid, Mademoiselle Zelie!«
»Ja«, gab Zelie Meauhourat zu, »ich wußte Bescheid. Ich war damals hier. Die Ravenscrofts machten sich ihretwegen Sorgen. Das begann, als sie versuchte, dem kleinen Edward zu schaden. Edward wurde auf die Schule zurückgeschickt, und ich und Celia fuhren in die Schweiz. Nachdem ich Celia im Pensionat untergebracht hatte, kehrte ich zurück. Bis auf General Ravenscroft, Dorothea, Margaret und mich war niemand im Haus, niemand hatte mehr Angst. Und dann passierte es. Die Schwestern gingen gemeinsam weg, aber Dolly kam allein zurück. Sie war in einer sehr merkwürdigen, nervösen Verfassung. Sie kam ins Zimmer und setzte sich an den Teetisch. Da entdeckte General Ravenscroft daß ihre rechte Hand voll Blut war. Er fragte sie, ob sie gestürzt sei. Sie antwortete: >Nein, nein. Ich habe mich nur an einem Rosenstrauch gekratzt.< Aber in den Hügeln gab es keine Rosen. Es war eine völlig verrückte Erklärung, und wir waren beunruhigt. Wenn sie gesagt hätte, ein Ginsterstrauch, hätten wir es vielleicht geglaubt. General Ravenscroft ging hinaus, und ich folgte ihm. Er wiederholte immerzu: >Margaret ist etwas zugestoßen. Ich bin sicher, daß Molly etwas zugestoßen ist.< Wir fanden sie auf einem Felsvorsprung, unterhalb vom Klippenpfad. Man hatte mit einem Felsbrocken und Steinen auf sie eingeschlagen. Sie war noch nicht tot, blutete aber sehr. Im ersten Moment wußten wir nicht, was wir tun sollten. Wir wagten nicht, sie zu bewegen. Wir hätten sofort einen Arzt holen müssen, aber da klammerte sie sich an ihren Mann und sagte, nach Atem ringend: >Ja, es war Dolly! Sie wußte nicht, was sie tat, oder warum. Sie kann nichts dafür. Du mußt es mir versprechen, Alistair ... Nein, nein, wir haben keine Zeit mehr, einen Arzt zu holen, und er könnte mir doch nicht mehr helfen. Versprich mir, daß du sie schützt! Versprich mir, daß die Polizei sie nicht verhaftet! Versprich mir, daß sie nicht wegen Mordes verurteilt und ihr ganzes Leben als Mörderin eingesperrt wird! Bitte, es ist das letzte, um was ich dich bitte! Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt ... Und du, Zelie, du hast mich geliebt und du hast die Kinder geliebt. Darum mußt du Dolly retten! Du mußt der armen Dolly helfen! Bitte! Um aller Liebe willen, die wir füreinander haben, muß Dolly beschützt werden.<«
»Und dann«, sagte Poirot, »was taten Sie dann?«
»Sie starb. Sie starb nach zehn Minuten, und ich half ihm, die Leiche zu verstecken, an einer etwas entfernteren Stelle, am Fuß der Klippen. Wir trugen sie über Felsbrocken und Steine und deckten ihren Körper zu, so gut wir konnten. Alistair Ravenscroft sagte wieder und wieder: >Ich habe es ihr versprochen. Ich muß mein Wort hatten.< Nun, wir haben es getan . .. Dolly war zu Hause. Sie hatte Angst, sie war verrückt vor Angst, aber gleichzeitig trug sie eine schreckliche Genugtuung zur Schau. Sie sagte, >Ich hab's immer gewußt, ich wußte seit Jahren, daß Molly richtig böse war. Sie hat dich mir weggenommen, Alistair. Du gehörtest mir - aber sie hat dich mir weggenommen, und du mußtest sie heiraten. Ich hab' immer gewußt, daß ich es ihr eines Tages heimzahlen würde. Jetzt habe ich Angst. Was werden sie mit mir tun? Was werden sie sagen? Ich lasse mich nicht wieder einsperren. Das halte ich nicht aus! Ich würde verrückt. Du wirst mich nicht einsperren lassen, Alistair. Sie werden mich abholen und behaupten, es wäre Mord. Aber es war kein Mord. Ich hab' es einfach tun müssen. Ich muß manchmal seltsame Dinge tun. Ich wollte das Blut sehen, weißt du. Aber ich hielt es nicht aus zu warten, bis Molly starb. Ich lief w?g. Aber ich wußte, daß sie sterben würde. Ich hoffte nur, du würdest sie nicht finden. Sie fiel einfach über die Klippen. Die Leute werden sagen, es war ein Unfall«
»Was für eine schreckliche Geschichte«, sagte Desmond.
»Ja«, meinte Celia, »eine schreckliche Geschichte. Aber es ist besser, daß wir die Wahrheit wissen. Viel besser. Sie tut mir nicht einmal leid. Meine Mutter, meine ich. Ich weiß, sie war liebenswert. Ich weiß, daß nie auch nur eine Spur Böses in ihr war - sie war durch und durch gut -, und ich kann verstehen, warum mein Vater Dolly nicht heiraten wollte. Er heiratete meine Mutter, weil er sie liebte und entdeckt hatte, daß mit Dolly etwas nicht stimmte. Daß etwas Böses in ihr war. Aber wie - wie habt ihr es vertuscht?«
»Wir haben viele Lügen erzählt«, erwiderte Zelie. »Wir hoff-ten, daß ihre Leiche nicht gleich gefunden würde, so daß man sie später - vielleicht nachts - wegbringen konnte. Es sollte so aussehen, als sei sie ins Meer gestürzt. Aber dann fiel uns ein, daß Dolly schlafwandelte. Was wir zu tun hatten, war eigentlich ganz einfach. Alistair Ravenscroft sagte: >Es ist entsetzlich. Aber ich hab's versprochen - ich schwor es Molly, als sie starb. Ich schwor, daß ich ihre Bitte erfüllen würde. Es gibt einen Weg, Dolly zu retten, wenn sie nur ihre Rolle richtig spielt. Ich weiß nicht, ob sie dazu imstande ist. Als ich fragte, was Dolly denn tun sollte, antwortete er: >Molly spielen und behaupten, daß es Dorothea war, die im Schlaf fortlief und hinunterstürzte.<
Wir schafften es. Wir brachten Dolly in eine leerstehende Hütte, ich blieb einige Tage bei ihr. Alistair Ravenscroft erzählte den Leuten, Molly sei ins Krankenhaus gekommen, um sich von dem Schock über den Tod ihrer Schwester zu erholen. Dann brachten wir Dolly zurück - als Molly - in einem Kleid von Molly und mit ihrer Perücke. Ich besorgte zusätzlich noch Perücken - die mit den Löckchen, in der sie wirklich ganz echt wirkte. Die gute alte Janet, die Haushälterin, sah sehr schlecht. Dolly und Molly waren sich sehr ähnlich, wissen Sie, auch in ihrer Stimme. Jeder akzeptierte ohne weiteres, daß Molly sich ab und zu etwas merkwürdig benahm, schließlich stand sie noch unter dem Schock. Es wirkte alles ganz echt. Das war die schrecklichste Seite an der ganzen Sache ... «
»Aber wie hielt sie durch?« fragte Celia. »Es muß doch entsetzlich schwierig gewesen sein.« »Nein, sie fand es nicht, denn sie hatte ja, was sie wollte, was sie immer gewollt hatte: Alistair ... «
»Aber wie konnte Alistair Ravenscroft das ertragen?«
»Er sagte mir, warum und wie - an dem Tag, als er meine Rückkehr in die Schweiz beschlossen hatte. Er erklärte mir, was ich zu tun hatte und was er tun wollte. Er sagte: >Für mich gibt es nur eins. Ich habe Margaret versprochen, daß ich Dolly nicht der Polizei übergebe und es nie herauskommt, daß sie eine Mörderin ist, und daß die Kinder es nie erfahren. Niemand braucht zu wissen, daß Dolly einen Mord beging. Sie lief eben im Schlaf weg und stürzte über die Klippen - einfach ein trauriger Unfall. Molly wird hier auf dem Friedhof und unter Dollys Namen beigesetzt.<