Obwohl sie fand, daß man nur in der Liebe wahre Freiheit erfahren und keiner einen anderen besitzen kann, lechzte sie insgeheim nach Rache – und dazu gehörte eine triumphale Rückkehr nach Brasilien. Nachdem sie ihre Farm eingerichtet hätte, wollte sie in die Stadt fahren, bei der Bank vorbeigehen, wo der Junge arbeitete, der sie wegen ihrer besten Freundin hatte sitzenlassen, und eine große Einzahlung – in Schweizer Franken – machen. Sie malte sich aus, wie er reagieren würde: »Hallo, wie geht's, erkennst du mich nicht?« Und sie würde gespielt angestrengt in ihrem Gedächtnis kramen und sich dann entschuldigen, es sei zu lange her, sie habe inzwischen auch ein ganzes Jahr in EUROPA (langsam aussprechen, damit seine Kollegen es hörten) verbracht. Besser gesagt, in der Schweiz (das klang exotischer und abenteuerlicher als Frankreich), wo die besten Banken der Welt angesiedelt sind. Wer er sei?
Sollte er doch sagen, sie seien zusammen zur Schule gegangen. Dann konnte sie immer noch die freundliche Dame spielen, die höflicherweise so tut, als könnte sie sich erinnern. Damit würde sie es ihm heimzahlen. Dann mußte sie ihre Farm in Schuß bringen. Und wenn alles so lief, wie sie es sich vorstellte, könnte sie sich dann auch dem widmen, was ihr im Leben am wichtigsten war: Sie würde ihre wahre Liebe finden, den Mann, der, ohne es zu wissen, all diese Jahre auf Maria gewartet hatte und dem sie nur noch nicht begegnet war.
Maria beschloß, sich das mit dem Buch Elf Minuten aus dem Kopf zu schlagen. Sie mußte sich jetzt auf die Farm konzentrieren, Pläne für die Zukunft machen, sonst bestünde die Gefahr, daß sie ihren Abreisetermin erneut hinausschob.
An jenem Nachmittag zog sie los, um sich mit ihrer besten einzigen – Freundin zu treffen, der Bibliothekarin. Sie erzählte ihr, daß sie sich für Landwirtschaft und Viehzucht interessiere, und wollte Fachliteratur ausleihen. Darauf gestand ihr die Bibliothekarin: »Wissen Sie, vor ein paar Monaten, als Sie immer herkamen, um Bücher über Sex auszuleihen, habe ich mir schon Sorgen um Sie gemacht. Schließlich lassen sich viele hübsche Mädchen vom schnellen Geld verführen und vergessen, daß sie eines Tages alt sein und keine Gelegenheit mehr haben werden, den Mann ihres Lebens zu treffen.«
»Meinen Sie Prostitution?«
»Das ist ein starkes Wort.«
»Wie gesagt, ich arbeite in einem Unternehmen für Fleischimund – export. Aber angenommen, ich wollte mich prostituieren, wäre das denn so schlimm? Vorausgesetzt, ich höre rechtzeitig damit auf? Schließlich heißt jung sein doch auch Fehler machen.«
»Das sagen alle Süchtigen: Man muß nur wissen, wann man aufhören muß. Und keiner hört auf.«
»Sie müssen einmal sehr schön gewesen sein, sind in einem Land geboren, in dem sich gut leben läßt, das seine Einwohner achtet. Reicht das aus, um sich glücklich zu fühlen?«
»Ich bin stolz darauf, mein Leben soweit gemeistert zu haben.«
Sollte sie weiter von sich erzählen? Das Mädchen sollte doch etwas lernen vom Leben!
»Ich habe eine glückliche Kind heit verlebt und in Bern die besten Schulen besucht. Dann bin ich zum Arbeiten nach Genf gekommen. Ich habe einen Mann kennengelernt, mich in ihn verliebt, ihn geheiratet. Ich habe alles für ihn getan, und er hat alles für mich getan. Die Zeit verging, und dann kam die Rente. Als er endlich Zeit hatte, um das zu machen, was er wollte, wurden seine Augen traurig vielleicht weil er sein ganzes Leben nie an sich selbst gedacht hatte. Wir haben nie ernsthaft gestritten, wir hatten keine großen Gefühle, er hat mich nie betrogen, und er hat mich nie schlecht behandelt. Wir haben ein normales Leben geführt, so normal, daß er sich ohne Arbeit nutzlos, bedeutungslos gefühlt hat und ein Jahr darauf an Krebs gestorben ist.«
So war es gewesen, aber die junge Frau könnte davon negativ beeinflußt werden.
»Wie auch immer, ein Leben ohne Überraschungen ist allemal besser«, schloß sie. »Vielleicht wäre mein Mann sonst noch früher gestorben.«
Mit den Büchern unter dem Arm verließ Maria die Bibliothek, entschlossen, alles über die Führung landwirtschaftlicher Betriebe zu lernen. Da sie den Nachmittag frei hatte, beschloß sie, einen Spaziergang zu machen, und entdeckte in der Altstadt neben einem normalen blauen Straßenschild eine kleine Plakette mit einer Sonne und der Inschrift >Chemin de Saint-Jacques< – Jakobsweg. Was war das bloß? Da es auf der anderen Straßenseite ein Cafe gab und sie gelernt hatte zu fragen, wenn sie etwas nicht wußte, ging sie hinein und erkundigte sich.
»Keine Ahnung«, sagte das Mädchen hinter dem Tresen. Es war ein elegantes Lokal, und der Kaffee kostete dreimal soviel wie sonstwo. Aber da sie jetzt Geld und nichts weiter zu tun hatte, bestellte Maria einen Kaffee und vertiefte sich in ihre Fachbücher. Voller Begeisterung öffnete sie eines der Bücher, konnte sich aber nicht auf ihre Lektüre konzentrieren – sie war so langweilig. Wieviel interessanter wäre es doch, mit einem ihrer Freier über das Thema zu sprechen sie wußten am besten, wie man Geld nutzbringend einsetzte. Sie zahlte den Kaffee, dankte der Bedienung und hinterließ ein gutes Trinkgeld (sie hatte, was das betraf, einen Aberglauben entwickelt: wer viel gibt, bekommt auch viel zurück). Sie stand auf, ging zur Tür und hörte, ohne sich der Bedeutung des Augenblicks bewußt zu sein, die Worte, die ihre Zukunft, ihre Farm, ihre Vorstellung vom Glück, ihre weibliche Seele, ihre Einstellung als Mensch, ihren Platz in der Welt verändern sollten. »Moment mal!«
Sie schaute überrascht zur Seite. Dies hier war ein respektables Cafe, nicht das >Copacabana<, wo Männer Frauen anbaggern, die Frauen sich aber nichts gefallen lassen müssen.
Sie wollte so tun, als hätte sie nichts gehört, doch dann war ihre Neugier stärker, und sie blickte sich um und sah eine merkwürdige Szene. Auf dem Boden kniete ein etwa dreißigjähriger, langhaariger Mann (oder sollte sie besser sagen »ein junger Mann um die Dreißig«? Warum fühlte sie sich oft schon so alt?). Um sich herum hatte er Stifte ausgebreitet, und er zeichnete einen Herrn, der an einem Tisch saß, vor sich ein Glas Pastis. Beim Eintreten hatte sie die beiden nicht bemerkt.
»Geh noch nicht! Ich zeichne nur schnell dieses Porträt. Und dann würde ich gern dich porträtieren.«
Maria antwortete – und dadurch, daß sie antwortete, stellte sie die Verbindung zum Universum her, die ihr bislang gefehlt hatte: »Ich habe kein Interesse.«
»Du strahlst ein Licht aus. Laß mich wenigstens eine Skizze machen.«
Was hieß da Skizze? >Licht<? Andererseits war sie geschmeichelt: ein seriöser Maler wollte sie porträtieren! Sie begann zu spekulieren: Was, wenn er wirklich berühmt ist und das Bild mit mir in Paris oder Salvador de Bahia ausgestellt wird? Märchenhaft!
Was machte dieser Mann mit all dem Kram um sich herum in diesem teuren, vornehmen Cafe?
Als hätte die Bedienung ihre Gedanken erraten, sagte sie leise: »Er ist ein sehr bekannter Maler.«