Vorhin auf dem Jakobsweg, als sie sich aus ihrem Leben erzählen hörte, war sie eine glückliche Frau gewesen. Sie konnte zufrieden sein – das allein war schon ein großes Geschenk.
»Ich werde dich besuchen«, sagte Ralf Hart.
»Tu das nicht. Ich reise bald wieder nach Brasilien zurück. Es ist doch schon alles gesagt.«
»Ich werde dich als Freier aufsuchen.«
»Das wird demütigend für mich sein.«
»Ich werde kommen, damit du mich rettest.«
Er hatte ihr gesagt, daß er sich für Sex nicht mehr interessiere. Sie wollte ihm sagen, daß es ihr genauso ging, hielt sich aber zurück – sie war in ihren negativen Äußerungen schon zu weit gegangen und zog es vor zu schweigen.
Wie rührend! Da stand sie wieder vor einem Jungen, nur daß er diesmal keinen Bleistift wollte, sondern etwas Gesellschaft. Sie sah auf ihr Leben zurück und konnte sich zum ersten Mal verzeihen. Es war nicht ihre Schuld gewesen, sondern die des unsicheren Jungen, der nach dem ersten Versuch aufgegeben hatte. Sie waren Kinder gewesen, und Kinder verhalten sich eben so. Weder sie noch der Junge hatte etwas falsch gemacht, und darüber war sie sehr erleichtert, sie fühlte sich besser, sie hatte die erste große Chance ihres Lebens nicht mutwillig vertan. Solche Dinge passierten eben, gehörten mit zur Initiation des Menschen auf der Suche nach seinem anderen Teil.
Allerdings war die Situation jetzt anders. So gut ihre Gründe auch sein mochten – ich gehe nach Brasilien, ich arbeite in einem Nachtclub, wir hatten keine Zeit, uns besser kennenzulernen, ich bin nicht an Sex interessiert, will von Liebe nichts wissen, muß eine Farm führen lernen, ich verstehe nichts von Malerei, wir leben in zu verschiedenen Welten –, das Leben stellte sie vor eine Herausforderung. Sie war kein Kind mehr, sie mußte eine Wahl treffen.
Sie zog es vor, ihm die Antwort schuldig zu bleiben. Sie verabschiedete sich mit einem Händedruck, wie es in diesem Land üblich war, und ging in die Richtung ihrer Wohnung. Wenn er wirklich der Mann war, wie sie ihn sich wü nschte, würde er sich von ihrem Schweigen nicht einschüchtern lassen.
Auszug aus Marias Tagebuch, am selben Tag geschrieben.
Als wir heute auf diesem seltsamen Jakobsweg am See entlanggegangen sind, hat der Mann – ein Maler, der ein so anderes Leben führt als ich – ein Steinchen ins Wasser geworfen. An der Stelle, an welcher der Stein hineinfiel, bildeten sich kleine Kreise, die sich immer mehr ausweiteten, bis sie eine Ente erreichten, die zufällig vorbeischwamm. Sie erschrak aber nicht, sondern spielte einfach mit den Wellen.
Wenige Stunden zuvor war ich in ein Cafe gegangen, hatte eine Stimme gehört, und es war so, als habe Gott einen Stein ins Wasser geworfen. Die Wellen der Energie berührten mich und einen Mann, der in einer Ecke ein Bild malte. Er hat die Energie des Steins gespürt und ich auch. Und nun?
Ein Maler weiß, wann er sein Modell gefunden hat. Ein Musiker weiß, wann sein Instrument gestimmt ist. Wenn ich mein Tagebuch lese, kommt es mir so vor, als ob bestimmte Sätze nicht von mir stammten, sondern von einer Frau voller >Licht<, die ich bin und die zu sein ich mich weigere.
Ich kann so weitermachen wie bisher. Aber ich kann mich auch wie die Ente im See vergnügen und mich über den Wellengang freuen, der plötzlich aufgekommen ist und das Wasser aufgewühlt hat.
Dieser Stein hat einen Namen: Leidenschaft – wenn zwei Menschen einander begegnen, kann er wie ein Blitz einschlagen. Die Leidenschaft liegt in der Erregung, die das Unerwartete hervorruft, in dem Wunsch, etwas mit Hingabe zu tun, in der Gewißheit, daß es einem gelingen wird, einen Traum zu verwirklichen. Die Leidenschaft gibt uns Zeichen, die uns im Leben leiten – und es bleibt mir überlassen, diese Zeichen zu deuten.
Ich würde gern glauben, daß ich verliebt bin. In jemanden, den ich nicht kenne und der in meinen Plänen nicht vorgesehen war. All diese Monate der Selbstkontrolle, diese Weigerung, mich zu verlieben, haben genau das Gegenteil bewirkt: Ich bin auf den ersten Menschen geflogen, der mir eine andere Art von Aufmerksamkeit geschenkt hat.
Wie gut, daß ich mir seine Telefonnummer nicht geben ließ, daß ich nicht weiß, wo er wohnt, daß ich nicht versucht habe, ihn zu halten!
Aber selbst wenn ich ihn bereits verloren hätte, so habe ich wenigstens einen glücklichen Tag in meinem Leben dazugewonnen. Und so, wie es um die Welt bestellt ist, grenzt ein glücklicher Tag schon an ein Wunder.
Als sie an jenem Abend ins >Copacabana< trat, war er da und wartete auf sie. Er war der einzige Freier. Milan, der das Leben dieser Brasilianerin mit einer gewissen Neugier verfolgte, sah, daß das Mädchen die Schlacht verloren hatte.
»Darf ich dich zu einem Drink einladen?«
»Ich muß arbeiten. Ich darf meinen Job nicht verlieren.«
»Ich bin als Freier hier.«
Dieser Mann, der am Nachmittag im Cafe so selbstsicher gewirkt, der den Stift so sicher geführt hatte, der wichtige Persönlichkeiten traf, eine Agentin in Barcelona hatte und bestimmt viel Geld verdiente – jetzt zeigte er seine Verletzlichkeit. Er war in einen Bereich eingedrungen, in den er nicht hätte eindringen dürfen, er hatte ein anderes Schlachtfeld gewählt als das romantische Cafe am Jakobsweg. Der Zauber des Nachmittags war verflogen. »Nun, nimmst du meine Einladung an?«
»Ein andermal. Ich hab heute noch Kundschaft.« Milan hörte das Ende des Satzes; er hatte sich geirrt, das Mädchen war doch nicht der Liebe in die Falle gegangen. Allerdings fragte er sich am Ende dieser Nacht, in der wenig los war, wieso Maria die Begleitung eines Alten, eines Buchhalters und eines Versicherungsvertreters vorgezogen hatte… Nun, es ging ihn nichts an, mit wem sie ins Bett ging, und solange Maria brav ihre Kommission zahlte, sollte es ihm recht sein.
>Ich denke an ihn, weil ich mit ihm reden konnte.<
Lächerlich! Dachte sie auch an die Bibliothekarin? Nein. Dachte sie an Nyah, die Philippinin, die einzige ihrer Kolleginnen im >Copacabana<, mit der sie sich ein wenig austauschen konnte? Nein, sie dachte nicht an sie. Und doch war Nyah jemand, in deren Gesellschaft sie sich wohl fühlte.
Sie versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf die spätsommerliche Hitze zu lenken, die gerade herrschte, und auf den Supermarkt, zu dem sie es tags zuvor nicht mehr geschafft hatte. Sie schrieb ihrem Vater einen langen Brief und beschrieb ihm genauestens das Stück Land, das sie gern kaufen wollte und das ihren Eltern bestimmt gefallen würde. Sie nannte kein Datum für ihre Rückkehr, ließ aber durchblicken, daß sie bald kommen wollte. Sie schlief ein, wachte auf, schlief wieder ein, wachte wieder auf. Fand heraus, daß die Bücher über Landwirtschaft für die Schweiz taugen mochten, sich aber auf brasilianische Verhältnisse nicht übertragen ließen.
Am Nachmittag ließ der Druck im Vulkan etwas nach, das Erdbeben verebbte ein wenig. Sie entspannte sich. Die Leidenschaft war schon ein paarmal so über sie hereingebrochen und immer am nächsten Tag wieder abgeklungen. Ihre Welt war nicht aus den Fugen geraten. Sie hatte Eltern, die sie liebten; da war ein Mann, der auf sie wartete und ihr jetzt häufig schrieb und von dem Stoffladen berichtete, der hervorragend lief. Selbst wenn sie heute die Abendmaschine zurück nach Brasilien nähme, hätte sie genug Geld, um zumindest eine kleine Farm zu kaufen. Sie hatte das Schlimmste hinter sich, die Sprachbarriere, die Einsamkeit, den Tag, als sie mit dem Araber im Restaurant gesessen und ihre Seele dazu gebracht hatte, nicht gegen das aufzubegehren, was ihr Körper tat. Sie wußte sehr genau, was ihr Traum war, und wollte alles dafür geben, und in diesem Traum waren Männer nicht vorgesehen. Zumindest keine, die nicht ihre Muttersprache sprachen und nicht in ihrer Heimat lebten.