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Maria mußte sich eingestehen, daß sie das Erdbeben zum Teil selbst verursacht hatte. Warum hatte sie nicht gesagt: >Ich bin allein, fühle mich genauso elend wie du, gestern hast du mein, Licht' gesehen, und seit meiner Ankunft hier war das das erste Schöne und Ernsthafte, was ein Mann zu mir gesagt hat<?

Das Radio spielte ein altes Chanson: >Meine Liebe stirbt, ehe sie beginnt<. Ja, genau das war bei ihr der Fall, das war ihr Schicksal.

Aus Marias Tagebuch, zwei Tage nachdem wieder Normalität eingekehrt war.

Die Leidenschaft bewirkt, daß man nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, nicht mehr normal arbeiten kann, sie raubt einem den Seelenfrieden. Sie reißt alles mit, was sich ihr in den Weg stellt, und das macht vielen angst.

Niemand möchte seine Welt in Unordnung bringen. Deshalb schaffen es viele, diese Bedrohung unter Kontrolle zu halten. Deshalb versuchen viele, ihre Welt wie ein Haus von allen Seiten abzustützen, obwohl dessen Balken längst morsch sind.

Das sind die Ingenieure des Überfälligen.

Andere wieder handeln genau umgekehrt: Sie geben sich blind hin, ohne nachzudenken, und hoffen, in der Leidenschaft die Lösung all ihrer Probleme zu finden. Sie übertragen dem anderen die alleinige Verantwortung für ihr Glück und die alleinige Schuld an ihrem Unglück. Entweder sind sie permanent euphorisch, weil etwas Wunderbares mit ihnen passiert ist, oder permanent deprimiert, weil etwas Unerwartetes alles zerstört hat.

Was ist weniger zerstörerisch: sich von der Leidenschaft fernzuhalten oder sich ihr blind hinzugeben? Ich weiß es nicht.

Drei Tage später kam Ralf Hart wieder ins >Copacabana<, und er kam fast zu spät, weil Maria sich bereits mit einem anderen Freier unterhielt. Als sie ihn sah, verabschiedete sie sich sofort höflich von dem anderen mit der Begründung, sie könne jetzt nicht tanzen, da sie jemanden erwarte.

Erst da gestand sie sich ein, daß sie all diese Tage auf ihn gewartet hatte. Und in diesem Augenblick akzeptierte sie alles, was das Schicksal ihr beschert hatte.

Sie machte sich keine Vorwürfe; im Gegenteil, sie freute sich, weil sie sich diesen Luxus leisten konnte, da sie Genf bald verlassen würde; sie wußte, daß diese Liebe unerfüllbar war, und gerade weil sie nichts erwartete, würde sie alles bekommen, was dieser Lebensabschnitt ihr noch geben konnte.

Ralf fragte, ob sie einen Drink wolle, und Maria bestellte einen Fruchtcocktail. Milan, der so tat, als würde er Gläser spülen, sah zu Maria herüber und verstand überhaupt nichts mehr. Was hatte sie veranlaßt, ihre Meinung zu ändern? Er hoffte, sie würde nicht nur vor dem Getränk sitzen bleiben – und war erleichtert, als der Freier sie zum Tanzen aufforderte. Sie hielten sich an das Ritual. Es gab keinen Grund zur Sorge.

Maria spürte Ralfs Hand an ihrer Taille, seine Wange an ihrer Wange, sie hörte die laute Musik, die gottlob jede Unterhaltung verhinderte. Mit einem Fruchtcocktail konnte man sich keinen Mut antrinken, und die wenigen Worte, die sie gewechselt hatten, waren förmlich gewesen. Jetzt war es eine Frage der Zeit: Würden sie in ein Hotel gehen? Würden sie Liebe machen? Kein Problem, zumal er ja angeblich nicht an Sex interessiert war. Die Arbeit würde nur darin bestehen, ein Ritual einzuhalten und dadurch den letzten Rest Leidenschaft in ihr abzutöten. Warum hatte sie sich von ihrer ersten Begegnung bloß so verunsichern lassen?

In dieser Nacht würde sie die verständnisvolle Mutter sein. Ralf Hart war nur ein verzweifelter Mann wie Millionen andere auch. Wenn sie ihre Rolle gut spielte, wenn sie sich an den Weg hielt, den sie für ihre Arbeit im >Copacabana< entworfen hatte, dann brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Aber es war sehr gefährlich, diesen Mann in ihrer Nähe zu haben: jetzt, da sie seinen Duft wahrnahm (und er gefiel ihr) und seine Berührung spürte (und sie gefiel ihr), wurde ihr klar, daß sie auf ihn wartete (und das gefiel ihr nicht).

Fünfundvierzig Minuten lang hatten sie alle Regeln eingehalten. Danach wandte sich Ralf an Milan: »Ich nehme sie für den Rest der Nacht mit. Ich zahle soviel wie drei Freier.«

Milan dachte achselzuckend, nun würde die Brasilianerin der Liebe doch noch in die Falle gehen. Maria war überrascht: sie hatte nicht geahnt, daß Ralf die Regeln so genau kannte.

»Gehen wir zu mir nach Hause!«

Vielleicht war das wirklich die beste Entscheidung, dachte sie. Obwohl es gegen alle Empfehlungen Milans verstieß, beschloß sie, eine Ausnahme zu machen. So konnte sie einerseits feststellen, ob er verheiratet war, und andererseits sehen, wie berühmte Maler wohnten, und eines Tages würde sie darüber einen kleinen Artikel für das Lokalblättchen zu Hause schreiben – damit alle wüßten, daß sie während ihres Europaaufenthaltes in Künstler-und Intellektuellenkreisen verkehrt hatte.

>Was für eine absurde Ausrede!< schalt sie sich innerlich.

Eine halbe Stunde später erreichten sie Cologny, einen Vorort von Genf: ein Dorfplatz mit einer Kirche, einer Bäckerei, dem Rathaus, alles wie im Bilderbuch. Und er wohnte tatsächlich in einem zweistöckigen Haus, nicht in einem Apartment! Erste Einschätzung: Er mußte tatsächlich Geld haben, Häuser waren sehr teure Immobilien. Zweite Einschätzung: Wäre er verheiratet, hätte er sie schon wegen der Nachbarn nicht zu sich eingeladen.

Also war er reich und ledig.

Sie betraten eine Eingangshalle, von der eine Treppe in den ersten Stock führte. Ralf geleitete sie aber geradeaus in die zwei Zimmer im hinteren Teil des Hauses, die auf einen Garten hinausgingen. Ein Eßzimmer mit einem Eßtisch und vielen Bildern an den Wänden. Im Salon nebenan: ein paar Sofas, Stühle, vollgestopfte Bücherschränke, überquellende Aschenbecher und schmutzige Gläser.

»Soll ich Kaffee machen?«

Maria schüttelte den Kopf. Nein, noch soll er mich nicht anders behandeln. Ich fordere meine Dämonen geradezu heraus, indem ich genau das Gegenteil dessen tue, was ich mir vorgenommen habe. Bloß keine Panik: Heute werde ich die Rolle der Prostituierten spielen oder der Freundin oder die der Verständnisvollen Mutter, obwohl ich in meiner Seele ein junges Mädchen bin, das Zärtlichkeit braucht. >Erst zum Schluß, wenn alles vorbei ist, dann kannst du mir einen Kaffee kochen!<

»Hinten im Garten liegt mein Studio, meine Seele. Hier, zwischen diesen Bildern und Büchern, ist mein Verstand, das, was ich denke.«

Zu Marias Wohnung gehörte kein Garten. Und es gab auch keine Bücher, außer denen aus der Stadtbücherei denn es lohnte sich ja nicht, Geld für etwas auszugeben, was man gratis bekommen konnte. Bei ihr gab es auch keine Bilder – nur ein Poster vom Chinesischen Staatszirkus aus Shanghai, den sie unbedingt einmal live erleben wollte.

Ralf nahm eine Flasche Whisky und streckte sie ihr hin.

»Nein, danke.«

Er goß sich ein Glas ein, ohne Eis, ohne alles, und kippte es herunter. Er begann über das Leben zu philosophieren durchaus interessante Gedanken –, und doch konnte er Maria nicht täuschen. Sie wußte nur allzu gut, daß dieser Mann Angst vor dem hatte, was jetzt geschehen könnte, da sie allein waren. Maria übernahm wieder die Kontrolle.

Ralf schenkte sich noch einmal ein und sagte beiläufig: »Ich brauche dich.«

Eine Pause. Langes Schweigen. >Hilf ihm nicht über dieses Schweigen hinweg, mal sehen, wie er fortfährt.<

»Ich brauche dich, Maria. Du hast Licht, obwohl ich spüre, daß du mir nicht glaubst und meinst, ich wolle dich mit meinen Worten verführen. Frag nicht >Warum ich? Was ist Besonderes an mir?< An dir ist nichts Besonderes, nichts, wofür ich eine Erklärung hätte. Dennoch – und darin liegt das Geheimnis des Lebens – kann ich an nichts anderes mehr denken.«