Sie war reifer geworden, während sie auf diesen Augenblick gewartet hatte. Sie hatte herausgefunden, daß die wirkliche Liebe, so wie sie sie sich vorgestellt hatte, nichts mit dieser durch die Liebesenergie hervorgerufenen Kettenreaktion von Ereignissen zu tun hatte: Zeit der Werbung, gegenseitige Versprechen, Heirat, Kinder, Warten, Küche, sonntags der Vergnügungspark, noch mehr Warten, gemeinsam alt werden, Ende der Warterei und statt dessen die Pensionierung des Ehemannes, Krankheiten, das Gefühl, daß man die Chance verpaßt hat, um gemeinsam seine Träume zu verwirklichen.
Sie schaute den Mann an, dem sich hinzugeben sie beschlossen hatte. Und dem sie niemals sagen wollte, was sie fühlte, weil es für ihre Gefühle noch keine Ausdrucksform gab, nicht einmal eine körperliche. Er wirkte entspannter, als hätte eine vielversprechende Phase seines Lebens begonnen. Er lächelte, erzählte von seiner kürzlichen Reise nach München, wo er sich mit einem wichtigen Museumsdirektor getroffen hatte.
»Er hat gefragt, ob das Bild der Gesichter Genfs fertig sei. Ich habe ihm gesagt, daß ich einer der Hauptfiguren begegnet sei und sie gern malen würde. Einer Frau voller Licht. Aber ich will nicht von mir reden. Ich möchte dich umarmen. Ich begehre dich.«
Begehren. Begehren? Begehren! Das war der Aus gangspunkt für diese Nacht, denn mit dem Begehren kannte sie sich aus.
Man konnte beispielsweise das Begehren wecken, indem man den Gegenstand der Begierde zurückhielt.
»Nun, dann begehre mich. Du sitzt in einem Meter Entfernung von mir, bist in einen Nachtclub gegangen, hast für meine Dienste bezahlt, weißt, daß du das Recht hast, mich zu berühren. Aber wage es nicht! Sieh mich an. Sieh mich an, und stell dir vor, daß ich vielleicht nicht will, daß du mich ansiehst. Stell dir vor, was meine Kleidung verhüllt.« Sie trug zur Arbeit immer schwarze Kleidung und verstand nicht, warum die anderen Mädchen im >Copacabana< aufreizende Dekolletes und schreiende Farben bevorzugten. Ihrer Meinung nach war für einen Mann eine Frau begehrenswert, der er ebensogut im Büro, im Zug oder im Haus der Freundin der Ehefrau hätte begegnen können.
Ralf sah sie an. Maria spürte, daß er sie mit den Blicken auszog, und ihr gefiel es, auf diese Weise begehrt zu werden ohne daß es einen Kontakt gab, wie in einem Restaurant oder in einer Warteschlange vor dem Kino.
»Wir befinden uns in einem Bahnhof«, fuhr Maria fort. »Ich warte mit dir auf den Zug. Du kennst mich nicht. Aber deine Blicke kreuzen sich zufällig mit meinen, und ich weiche ihnen nicht aus. Du kannst meinen Blick nicht deuten, denn obwohl du intelligent bist und fähig, das >Licht< der Menschen zu sehen, bist du zuwenig sensibel, um zu sehen, was dieses Licht beleuchtet.«
Sie schlüpfte in eine Rolle. Das Gesicht des englischen Managers, das sie am liebsten schnell wieder vergessen hätte, drängte sich ihr auf; er war da, leitete ihre Phantasie.
»Ich blicke dich fest an, und ich frage mich vielleicht: >Kenne ich ihn von irgendwoher?< Oder ich bin zerstreut. Oder ich habe Angst, du könntest mich unsympathisch finden. Vielleicht kennst du mich, und ich lasse dich kurz im Zweifel, ob ich dich auch kenne oder dich mit jemandem verwechselt habe.
Aber ich könnte auch einfach einen Mann treffen wollen. Oder ich bin auf der Flucht vor einer Liebe, die mich hat leiden lassen. Ich könnte mich an jemandem rächen wollen, der mich betrogen hat, und beschließen, mir am Bahnhof einen Wildfremden anzulachen. Oder ich könnte mir wünschen, nur für diese Nacht deine Hure zu sein, nur um Abwechslung in mein ödes Leben zu bringen. Und ich könnte soga r tatsächlich eine Frau sein, die auf den Strich geht.«
Maria schwieg. Ihre Gedanken wanderten zurück in das Hotel am Fluß, zu der Demütigung – >gelb<, >rot<, >Schmerz und viel Lust<. Das hatte ihre Seele in einer Art und Weise durcheinandergebracht, die ihr nicht gefiel.
Ralf bemerkte es und versuchte, sie wieder in den Bahnhof zurückzuholen. »Begehrst du mich bei dieser Begegnung auch?«
»Ich weiß es nicht. Wir reden nicht miteinander. Du weißt es auch nicht.«
Sie war erneut abgelenkt. Die Idee mit dem >Ro llenspiel< war jedenfalls sehr hilfreich; es ließ die wahre Person zutage treten, verscheuchte die vielen falschen Personen, die in ihr wohnten.
»Tatsache aber ist, daß ich meinen Blick nicht abwende, und du weißt nicht, was du machen sollst. Sollst du näher treten? Wirst du abgelehnt? Werde ich einen Aufsichtsbeamten rufen? Oder werde ich dich zu einer Tasse Kaffee einladen?«
»Ich komme gerade aus München zurück«, sagte Ralf Hart, und seine Stimme klang anders, fremd. »Ich habe vor, eine Reihe von Bildern über die verschiedenen Gesichter des Sex zu malen. Die vielen Masken, die die Menschen aufsetzen, um niemals die wahre Begegnung zu erleben.«
Er kannte sich mit Rollenspielen aus. Milan hatte gesagt, auch Ralf sei ein spezieller Freier. Die Alarmglocken schrillten, aber Maria brauchte Zeit, um nachzudenken.
»Der Museumsdirektor hat mich gefragt, was die Grundidee für mein Bild sei. Ich habe ihm geantwortet: >Frauen, die sich frei fühlen und ihr Geld mit Sex verdienen.< Er meinte: >Das geht nicht. Wir nennen solche Frauen Huren.< Ich entgegnete: >Richtig, es sind Prostituierte, ich werde die Geschichte der Prostitution studieren und sie intellektuell aufbereiten, aber so, daß es dem Bildungsstand der Museumsbesucher entspricht. Kunst kann das, wissen Sie. Schwerverdauliches ansprechend darbieten.<
Der Direktor beharrte: >Aber Sex ist doch kein Tabu mehr. Das Thema ist schon so häufig abgehandelt worden, daß es schwierig ist, etwas Neues zu machen.< Ich habe darauf geantwortet: >Wissen Sie überhaupt, woher das sexuelle Begehren kommt?< – >Vom Instinkt her<, sagte der Direktor. – >Ja, vom Instinkt, das weiß jeder. Aber ich will keine wissenschaftliche Ausstellung machen. Ich möchte thematisieren, wie sich die Menschen diese Anziehungskraft erklären: ein Philosoph beispielsweise.< Der Direktor bat mich, ihm ein Beispiel zu nennen. Ich habe ihm gesagt: >Wenn mich im Zug nach Hause eine Frau ansieht, werde ich mit ihr reden; ich werde zu ihr sagen, daß wir, da wir uns nicht kennen, die Freiheit haben, alles zu tun, wovon wir geträumt haben, unsere Phantasien auszuleben, und daß wir anschließend in unsere Wohnungen, zu unseren Ehepartnern zurückkehren und uns nie wieder sehen würden.< Und dann, am Bahnhof, sehe ich dich.«
»Deine Geschichte ist so spannend, daß das Begehren dabei verfliegt.«
Ralf lachte zustimmend. Der Wein war ausgetrunken, und der Maler ging in die Küche, um eine zweite Flasche zu holen. Maria blieb sitzen, blickte ins Feuer. Sie wußte, wie es weitergehen würde, genoß aber einstweilen die gemütliche Atmosphäre und vergaß den englischen Manager.
Ralf schenkte beide Gläser voll.
»Sag mal, wie würde diese Geschichte mit dem Direktor eigentlich ausgehen?«
»Da ich es mit einem Intellektuellen zu tun habe, würde ich Plato zitieren. Plato zufolge waren Männer und Frauen zu Beginn der Schöpfung nicht, was sie heute sind; es gab nur ein Wesen – klein, ein Körper, ein Hals und ein Kopf mit zwei Gesichtern, von denen jedes in eine andere Richtung blickte. So, als wären zwei Geschöpfe mit dem Rücken aneinandergeklebt, mit zwei verschiedenen Geschlechtern und mit vier Beinen und vier Armen.
Die Götter der alten Griechen aber waren eifersüchtig und erkannten, daß ein Geschöpf mit vier Armen mehr arbeiten konnte. Zudem hielten die beiden Gesichter ständig Wache, und daher konnte das Wesen nicht aus dem Hinterhalt angegriffen werden. Es verbrauchte weniger Energie, konnte mit vier Beinen länger laufen oder stehen. Und noch gefährlicher: Dieses Wesen war zweigeschlechtlich, es konnte sich also eigenständig fortpflanzen.