Da sagte Zeus, der oberste Gott im Olymp: >Ich habe einen Plan, um diesen Sterblichen die Kraft zu nehmen.<
Und mit einem Blitz spaltete er das Wesen in zwei Teile und schuf so Mann und Frau. Die Erdenbewohner verdoppelten sich dadurch auf einen Schlag, wurden aber gleichzeitig orientierungslos und schwach: nun mußten alle nach ihrem verlorenen anderen Teil suchen, ihn umarmen und in dieser Umarmung die alte Kraft wiedererlangen, die Fähigkeit zur Eintracht, die Zähigkeit, die es braucht, um lange Wege zurückzulegen und ermüdende Arbeit zu ertragen. Diese Umarmung, in der die beiden Körper wieder miteinander verschmelzen, nennen wir Sex.«
»Ist diese Geschichte wahr?«
»Nach Plato, ja.«
Maria sah ihn fasziniert an, und die Erlebnisse der vergangenen Nacht waren wie weggewischt.
Während er begeistert diese merkwürdige Geschichte erzählte, sah sie, wie der Mann, der vor ihr saß, von demselben Licht erfüllt war, das er in ihr gesehen hatte. Seine Augen glänzten nicht vor Begehren, sondern aus Freude.
»Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«
Ralf antwortete, sie dürfe ihn um alles bitten.
»Kannst du herausfinden, warum einige Menschen, nachdem die Götter jenes vierbeinige Wesen geteilt hatten, diese Umarmung, diese Verschmelzung als eine Sache, ein beliebiges Gewerbe ansahen – das ihnen keine Energie gab, sondern sie ihnen nahm?«
»Redest du von der Prostitution?«
»Genau. Kannst du herausfinden, ob der Sex anfangs etwas Heiliges war?«
»Wann immer du möchtest«, antwortete Ralf.
Maria hielt dem Druck nicht mehr stand.
»Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, daß Frauen, und vor allem auch Huren, fähig sind zu lieben?«
»Ja, der ist mir an dem Tag gekommen, als wir in dem Cafe in der Altstadt am Tisch saßen und ich dein Licht sah. Als ich dir einen Pastis spendierte, traf ich die Wahl, an alles zu glauben, auch an die Möglichkeit, daß du mich der Welt wiedergibst, die ich vor langer Zeit verlassen habe.«
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Maria, die Meisterin, mußte ihr sofort zur Hilfe kommen, sonst würde sie ihn küssen, ihn umarmen, ihn anflehen, sie nie zu verlassen.
»Kehren wir zum Bahnhof zurück«, sagte sie. »Oder besser gesagt, zu dem Tag, an dem wir zum ersten Mal hier bei dir waren und du erkannt hast, daß ich existiere, und mir ein Geschenk gemacht hast. Es war ein erster Versuch, um dir Zutritt zu meiner Seele zu verschaffen, obwohl du nicht wußtest, ob ich dich hereinlassen würde. Aber darum geht es ja auch in deiner Geschichte: Die Menschen wurden getrennt und sind nun auf der Suche nach dieser Umarmung, die sie wieder vereint. Das ist unser Instinkt. Aber auch der Ansporn dafür, alle Hindernisse zu überwinden, die sich bei dieser Suche einstellen.
Ich möchte, daß du mich anschaust, aber so, daß ich es nicht merke. Das erste Begehren ist wichtig, weil es ein verstecktes, unerlaubtes Begehren ist. Du weißt nicht, ob du deinen verlorenen Teil vor dir hast. Er weiß es auch nicht, aber die gegenseitige Anziehungskraft besteht – man muß nur daran glauben.«
>Woher nehme ich das bloß?< fragte sie sich. >Ich hole das alles aus den Tiefen meines Herzens, weil ich wollte, es wäre immer so gewesen. Diese Träume gehören zu meinem eigenen Traum als Frau.<
Sie zog einen Träger ihres Kleides etwas herunter, so daß ihr Brustansatz sichtbar wurde.
»Du begehrst nicht, was du siehst, sondern, was du dir vorstellst.«
Ralf Hart sah eine Frau mit schwarzem Haar und ebenso schwarzen Kleidern, die auf dem Boden seines Salons saß und verrückte Wünsche hatte wie den, mitten im Sommer den Kamin anzuzünden. Ja, er wollte sich vorstellen, was diese Kleider verhüllten, er konnte die Größe ihrer Brüste sehen, wußte, daß sie den Büstenhalter, den sie trug und der wahrscheinlich in ihrem Beruf vorgeschrieben war, nicht brauchte. Ihre Brüste waren weder groß noch klein, sie waren jung. Ihr Blick verriet nichts. Was machte sie da? Warum gab er dieser gefährlichen, unmöglichen Beziehung Nahrung? Er hatte kein Problem, eine Frau zu bekommen. Er war reich, jung, berühmt, sah gut aus. Er liebte seine Arbeit, hatte die Frauen, die er geheiratet hatte, geliebt und war wiedergeliebt worden. Er war ein Mensch, der eigentlich hätte sagen müssen: >Ich bin glücklich.<
Aber er war es nicht. Während die meisten Menschen um ein Stück Brot kämpften, ein Dach über dem Kopf, eine Arbeit, die ihnen erlaubte, in Würde zu leben, hatte Ralf Hart all das im Überfluß und fühlte sich deswegen nur um so kläglicher. Rückblickend könnte er in den letzten Jahren vielleicht zwei oder drei Tage nennen, an denen er aufgewacht, die Sonne oder den Regen gesehen und glücklich gewesen war, am Leben zu sein – wunschlos glücklich, planlos glücklich. Von diesen wenigen Tagen abgesehen, war der Rest seines Lebens mit Träumen, Frustrationen und Erfolgen und dem Wunsch dahingegangen, sich selbst zu übertreffen, Reisen über die eigenen Grenzen hinaus zu machen. Er hatte das ganze Leben damit verbracht, etwas zu beweisen, nur wußte er nicht genau, wem.
Er sah die schöne Frau an, die in diskretes Schwarz gekleidet war und die er zufällig getroffen hatte, obwohl er sie schon zuvor in einem Nachtclub gesehen und festgestellt hatte, daß sie nicht dorthin paßte. Sie wollte, daß er sie begehrte, und er begehrte sie sehr, viel mehr, als sie sich vorstellen konnte – aber es waren nicht ihre Brüste oder ihr Körper; er begehrte ihre Gesellschaft. Er wollte sie im Arm halten, dabei schweigend ins Feuer blicken, Wein trinken, die eine oder andere Zigarette rauchen – mehr nicht. Das Leben bestand aus einfachen Dingen, er war es leid, all diese Jahre etwas gesucht zu haben, von dem er nicht wußte, was es war.
Allerdings, wenn er das tat, wenn er sie berührte, wäre alles verloren. Denn trotz des >Lichtes<, das er in Maria sehen konnte, wußte er, wie sehr er sie vermissen würde, wie gut es an ihrer Seite war. Zahlte er? Ja. Und er würde für die Zeit bezahlen, die nötig war, um sie zu erobern, sich mit ihr an den See zu setzen, ihr von Liebe zu sprechen und von ihr das gleiche zu hören. Es war besser, nichts zu riskieren, die Dinge nicht zu überstürzen, nichts zu sagen.
Ralf Hart hörte auf, sich zu quälen, und konzentrierte sich wieder auf das Spiel, das sie beide soeben erfunden hatten. Die Frau, die vor ihm saß, hatte recht: Der Wein, die Zigarette, ihre Gegenwart allein genügte nicht; es bedurfte einer anderen Art von Trunkenheit, einer anderen Art von Feuer.
Sie trug ein Trägerkleid, er konnte ihre Haut sehen, ihre halb entblößte Brust, die eher bräunlich als weiß schimmerte. Er begehrte sie. Er begehrte sie sehr.
Maria sah die Veränderung in Ralfs Augen. Sich begehrt zu fühlen erregte sie mehr als alles andere. Es hatte nichts mit dem Standardablauf zu tun – ich möchte mit dir Liebe machen, will heiraten, will, daß du einen Orgasmus hast, will ein Kind haben, will Verbindlichkeit. Nein, das Begehren war ein freies Gefühl, ein im Raum schwebender Wunsch, der das Leben erfüllte – und das reichte; dieser Wunsch trieb alles voran, brachte Berge zum Einstürzen… und ließ ihr Geschlecht feucht werden.
Der Wunsch hatte am Anfang von allem gestanden – ihr Land zu verlassen, eine neue Welt zu entdecken, Französisch zu lernen, ihre Vorurteile zu überwinden, von einer Farm zu träumen, bedingungslos zu lieben, sich allein wegen des Blickes eines Mannes als Frau zu fühlen. Mit kalkulierter Langsamkeit streifte sie den anderen Träger herab, und das Kleid glitt an ihrem Körper herunter. Dann hakte sie den Büstenhalter auf. Sie blieb so, mit nacktem Oberkörper sitzen, fragte sich, ob er sich auf sie stürzen, sie berühren, Liebesschwüre stammeln würde oder ob er sensibel genug war, um das eigene Begehren als die wahre sexuelle Lust zu empfinden.